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Widerruf

[165] Widerruf (Revocatio), die Erklärung, daß man von demjenigen wiederum abgehe, was man früher gesagt hat. Der W. ist entweder ein freiwilliger, wenn derselbe aus eigenen, inneren Motiven des Widerrufenden hervorgeht; od. ein erzwungener, d.h. durch äußere Mittel abgenöthigter, z.B. bei dem W. einer Injurie (s. unten). In der Regel ist bei Rechtsgeschäften der einseitige W. nur erlaubt, so lange noch nicht eine andere Person aus der früheren, nun widerrufenen Erklärung ein Recht erlangt hat. Daher kann z.B. bei letzten Willenserklärungen ein W. von dem Testirer bis zum Augenblick seines Todes noch unbeschränkt erfolgen, weil erst mit dem Tode der Erbe od. Vermächtnißnehmer ein wirkliches Recht auf das ihm Hinterlassene erlangt. Eben deshalb kann bei der Auslebung (s.d. 2) ein W. so lange stattfinden, als nicht Jemand aus dem aufgerufenen Publicum die Leistung, für welche Etwas versprochen wurde, entweder bereits erfüllt od. doch zu deren Erfüllung äußere Veranstaltung getroffen hat. Beim Abschluß von Verträgen ist der W. des einen Paciscenten bis zu dem Augenblick unbedingt gestattet, in welchem der Vertrag durch die übereinstimmende Erklärung des anderen Paciscenten zur vollen Perfection gelangt ist. Von da an kann dagegen der W. der Regel. nach gültiger Weise nur mit Einwilligung des anderen Theiles erfolgen. Doch erleidet diese Regel Ausnahmen. So kann ein ertheilter Auftrag (Vollmacht, Mandatum) jeder Zeit sowohl von dem Auftraggeber, selbst stillschweigend, z.B. durch Beauftragung eines Anderen od. eigene Besorgung des Geschäftes, als auch von dem Beauftragten, durch Aufkündigung mit Meldung an den Mandanten (Renunciation) widerrufen werden, nur daß der Widerrufende im Falle eines dadurch geursachten besonderen Nachtheiles verhaftlich bleibt. Ebenso kann der Gesellschaftsvertrag jeder Zeit von dem Gesellschafter einseitig aufgekündigt werden, so daß selbst ein besonderes Pactum ne abeatur a societate, insofern nicht für den Fall besondere Privatstrafen ausgemacht worden sind, keine Wirkung hat. Bei der Vermiethung od. Verpachtung eines Gegenstandes ist dem Vermiether od. Verpächter der einseitige Rücktritt gestattet, wenn der Miethsmann od. Pachter zwei Jahre lang mit dem Pachtgeld im Rückstand verblieb, mit der vermietheten Sache schlecht umgeht, wenn eine nöthige Reparatur die Fortsetzung des Gebrauches nicht gestattet, wegen dringenden eigenen Bedürfnisses derselben u. nach der Praxis auch bei Eröffnung des Concurses über den Pächter; der Miethsmann kann einseitig zurücktreten wegen bemerkter Mängel an der Sache, welche ihren Gebrauch hindern od. beträchtlich erschweren, bei Säumniß des Vermiethers in der Überlassung des Gebrauches u. bei begründeter Besorgniß einer mit der Fortbenutzung der Sache verbundenen Gefahr. Bei einem Eheverlöbniß wird nach Canonischem Rechte der einseitige W. überall gestattet, wo derselbe durch hinlängliche Gründe gerechtfertigt erscheint. Dahin gehört die Verletzung der Verlöbnißtreue, die absichtliche Verzögerung der Eheschließung, selbst schon der Eintritt wichtiger Veränderungen in den Verhältnissen des einen Verlobten, von denen angenommen werden darf, daß sie den anderen von dem Verlöbnisse abgehalten haben würden, wenn sie ihm früher bekannt gewesen wären, wie z.B. eingetretene[165] körperliche Gebrechen, ansteckende Krankheit, Verbrechen, Nahrungslosigkeit, Confessionswechsel, Übertritt in einen ganz verschiedenen Beruf etc. Rechtsgeschäfte, welche den Charakter von Schenkungen (s.d.) an sich tragen, können einseitig von dem Schenkgeber widerrufen werden, wenn der Beschenkte sich durch thätliche od. sonstige grobe Injurien, ferner dadurch, daß er den Schenker in Lebensgefahr brachte, ihm absichtlich einen nicht unbedeutenden Vermögensnachtheil beifügte od. das bei der Schenkung geleistete Gegenversprechen nicht erfüllte, sich gegen den Schenker eines groben Undankes schuldig machte, außerdem nach Römischem Rechte auch, wenn der kinderlose Patron einem Freigelassenen eine Schenkung machte u. später ihm noch Kinder nachgeboren wurden, was die Praxis dann überhaupt so weit ausgedehnt hat, daß jeder kinderlose Schenkgeber, wenn ihm später noch Kinder geboren werden, die Schenkung revociren darf Überdies kann auch der W. vorbehalten werden, u. zwar bei jedem vollkommenen Vertrag durch besondere Nebenverabredung entweder ganz allgemein (sog. Pactum displicentiae, Reuevertrag) od. für eine gewisse Zeit (Addictio in diem). Doch gibt es auch manche Rechtsverhältnisse, welche die Zufügung einer solchen Nebenverabredung ihrer eigenthümlichen Natur nach nicht gestatten. Dahin gehören namentlich alle Rechtsverhältnisse des Familienrechtes, wie z.B. die väterliche Gewalt, Ehe u. Vormundschaft. Auch das Erbrecht kann nicht widerruflich erworben werden. Wichtig ist der Vorbehalt des W-s bes. noch bei dem Verhältniß der Staatsdiener (s.d.); je nachdem der Staat bei der Anstellung sich das Recht vorbehalten hat den Staatsdiener willkürlich, auch ohne besondere Angabe von Gründen, wieder entlassen zu können, werden dieselben in die zwei Hauptklassen der widerruflichen u. unwiderruflichen Staatsdiener getheilt. Als Strafe kommt der W. bei dem Verbrechen der Injurie (s. d) vor. Der W. einer eidlich bekräftigten Aussage, z.B. der Aussage eines eidlich vernommenen Zeugen, begründet nach Befinden, wenn sich darnach herausstellt, daß die früher eidlich bekräftigte Aussage nicht eine der Wahrheit entsprechende gewesen ist u. daß dieselbe entweder absichtlich od. in schuldvoller Fahrlässigkeit abgelegt wurde, das Verbrechen des Meineides od. leichtsinnigen Eides. Der W. eines Geständnisses wird im Civilprocesse in der Regel gar nicht berücksichtigt. Eine Ausnahme davon ist nur dann zu machen, wenn entweder das Geständniß irriger Weise von einem Sachwalter abgelegt wurde, in welchem Falle es nach Gemeinem Rechte von dem Clienten noch binnen drei Tagen zurückgenommen werden kann, od. wenn der W. zu einer Zeit er folgte, zu welcher der Parteivortrag, welcher das Geständniß enthält, überhaupt noch zurückgenommen od. abgeändert werden durfte. Der Werth des W-s eines Geständnisses von Seiten eines Angeschuldigten dagegen ist nach den Umständen zu beurtheilen, unter denen das frühere Geständniß abgelegt wurde u. unter welchen dann der W. desselben erfolgte. In der Regel kann man auch hier nicht annehmen, daß das frühere Geständniß seine Beweiskraft verliere, wenn nicht der Widerrufende eine glaubwürdige Ursache anzugeben vermag, warum er früher ein falsches Geständniß ab. gelegt habe, z.B. weil er durch Zwang od. Vorspiegelungen verleitet worden, od. solche Umstände wahrscheinlich macht, welche nach den darüber veranstalteten Erhebungen die Wahrheit des früheren Geständnisses mit Grund bezweifeln lassen.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 19. Altenburg 1865, S. 165-166.
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