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Wolga

[732] Wolga (tatar. Etil, Itil, Atel, »die Freigebige«, bei den Slawen Bolga oder W., bei den Alten Rha oder Oarus, finn. noch jetzt Rau), der größte und wasserreichste Fluß des europäischen Rußland und Europas überhaupt, entspringt etwa 330 km vom Finnischen Meerbusen in der Nähe der Düna im Gouv. Twer, Kreis Ostaschkow, im Waldaigebirge, im sogen. Wolginskiwald, unweit des Dorfes Wolgino-Werchowje, durchfließt hierauf mehrere kleine Seen, als letzten den See Wolgo, an dessen Ausfluß ein großes Wehr zur Regulierung des Wasserstandes errichtet ist, nimmt dann die Selisharowka, den Abfluß des Seligersees, auf und wird für kleine Fahrzeuge schiffbar. Zwischen hohen Ufern setzt sie ihren obern Lauf in südlicher Richtung über Rshew bis Subzow fort, wo sie das wellenförmige Tiefland erreicht, das sie 1700 km weit auf ihrem bis Kamyschin reichenden Mittellauf nicht wieder verläßt. Auf dieser weiten Strecke fließt sie erst ostwärts über Twer, wo sie für Dampfer schiffbar wird, bewässert die Gouvernements Jaroslaw, Kostroma und Nishnij Nowgorod in einer anfangs nordöstlichen, dann südöstlichen Richtung und tritt darauf in das Gouv. Kasan ein. Bei Kasan nimmt sie einen südlichen Lauf an und fließt, durch die mächtige Kama verstärkt, an den Städten Simbirsk, Stawropol, Samara, Sysran, Chwalynsk, Wolsk vorbei nach Saratow. Unterhalb Stawropol umgeht sie auf einer Strecke von 212 km in schroffer Wendung (Samarabiegung, Samarskaja Luka) den hier weit nach O. vordringenden Wolgaschen Höhenzug (der hier den Namen Shiguljówskija Góry führt und den landschaftlich schönsten Teil der Wolgaufer bildet) und wird von dessen steilen Abfällen an ihrem rechten Ufer bis zum Dorf Sarepta begleitet. Hier wendet sich der Strom scharf gegen SO., wälzt sich zwischen niedrigen Ufern langsam in vielen Armen, deren erste bedeutende Spaltung bei Zarizyn beginnt, und deren nördlichster Achtuba heißt, ein Labyrinth von Sand- und Sumpfinseln, Schilf- und Wiesengründen bildend, durch die salzige Steppe und ergießt sich 74 km unterhalb Astrachan in einem 110 km breiten Delta mittels 8 Haupt- und fast 20 kleinerer Mündungsarme ins Kaspische Meer. Ein Arm der W., der sich oberhalb Astrachan abtrennt, heißt Balda (Bolda). Im Frühling bietet das Wolgadelta den Anblick einer weiten Wassermasse dar. Die Gesamtlänge des Stromes beträgt 3690 km, während die Entfernung von der Quelle bis zur Mündung in gerader Linie nur 1653 km ausmacht. Nachstehende Tabelle zeigt die Länge der Wasserwege des Wolgabassins und seiner drei Hauptflüsse (in Kilometern).

Tabelle

Unter den sehr zahlreichen und ansehnlichen Nebenflüssen der W. sind folgende die wichtigsten: auf der rechten Seite die Oka, die Sura und Swijaga, auf der linken Seite die Mologa, Kostroma, Unsha, Wetluga, Kama und Samara. Durch diese und mehr als 100 andre Nebenflüsse fallen 22 Gouvernements in das Stromgebiet des Riesenflusses, das im ganzen 1,458,922 qkm (26,495 QM.) umfaßt. Merkwürdig ist das geringe Gefälle des Stroms, das im ganzen nur 273 m beträgt. Die Breite der W. beträgt bei Twer gegen 215, bei der Mündung der Mologa 470,[732] unterhalb der Mündung der Kama 1500 m und gegen ihre Mündung hin nahezu 8 km. Ihr Lauf ist regelmäßig und ruhig, aber zur Zeit der Schneeschmelze richtet sie Überschwemmungen und Verwüstungen an. Diese reißen ihr bisweilen neue Betten, die, wenn sie Fluß behalten, Kleine Wolgen (Woloshki) genannt werden. Die sogen. Satóni und Sáwodi, teils kurze Nebenarme des Hauptstroms, teils kleine Buchten oder Uferseen, die mit ihm durch kurze, meist enge Mündungen zusammenhängen, sind als Sicherheits- und Landungsplätze von großer Wichtigkeit. Im Sommer entblößt die W. an unzähligen Stellen ihren Grund und bildet Sandinseln. Das Flußgerinne hat eine sehr verschiedene Tiefe und erreicht sogar 26 m, während im obern Laufe Stellen von nur 0,7 m, im mittlern von 1,04, im untern von 1,5 m Tiefe vorkommen. Die W. führt alle Jahre mehr Sand mit sich und wird überhaupt immer seichter. Dazu treten häufige Verlegungen der Flußrinne, so daß die Dampfer vielfach nicht an die Hafenstädte (besonders Saratow) herankommen können. Sehr störend sind ferner die sogen. Perekaty, flache Durchquerungen, die im Sommer die Benutzung tiefgehender Fahrzeuge unmöglich machen. Ungefähr 200 Tage im Jahr ist die W. eisfrei (in den Gouvernements Kostroma, Jaroslaw und Kasan sogar nur 152 Tage). Trotz aller dieser Hindernisse ist die Schiffahrt auf der W. sehr bedeutend. Regelmäßige Dampfschiffverbindungen werden von mehreren Wolga-Dampfschiffgesellschaften (Samoljot, Kawkas und Merkur, Wolga, Nadeshda u. a.) unterhalten, so von Twer nach Rybinsk, von dort nach Nishnij Nowgorod, Kasan und Astrachan, von Nishnij Nowgorod auf der Kama nach Perm, auf der Ufa bis Ufa, auf der Oka bis Rjasan und auf der Unsha bis Ugor. Die Flotte des Wolgabassins bestand 1901 aus 1718 Dampfern und 8250 andern Schiffen mit einer Ladefähigkeit von 7,4 Mill. Ton. Die Gesamtmenge der beförderten Waren betrug 19,3 Mill. T. im Wert von 414 Mill. Rubel. Die größte Menge der Waren bestand aus Bau- und Brennholz (6,5 Mill. T.), Naphtharückständen und Petroleum (4,5 Mill. T.), Getreide (2,8 Mill. T.), Mehl, Salz, Eisen, Fischen. Nach der Größe des Umsatzes besteht nachstehende Reihenfolge der zehn bedeutendsten Häfen, auf die etwa 83 Proz. des Gesamtumsatzes der Wolgahäfen entfallen: Astrachan, Nishnij Nowgorod, Samara, Zarizyn, Balakowo, Saratow, Kasan, Rybinsk, Simbirsk, Jaroslaw. Der bequemste und lebhafteste Verkehr besteht zwischen Nishnij Nowgorod und Zarizyn. Unter den großartigen Kanalbauten zeichnen sich die drei Kanalsysteme von Wischne-Wolotschok, des Tichwin- und des Marienkanals (s. d.) besonders aus, welche die Verbindung mit Petersburg bewirken, während der Kanal des Herzogs von Württemberg die W. auch mit der Dwina in Verbindung setzt. Von großer Wichtigkeit ist die Fischerei, wie denn die W. vielleicht der fischreichste Strom der ganzen Erde ist. Bei Simbirsk beginnen die beständigen Fischereien, die sich am zahlreichsten unterhalb Astrachan, an den Mündungen und auf dem Kaspischen Meere finden. Die wichtigsten Fische sind einerseits die sogen. roten Fische, wozu man Haufen, Sterlett, Stör und Sewrjuga (Acipenser stellatus), ferner Lachs und Weißlachs rechnet, anderseits die Weißfische, wie Hecht, Zander, Blei, Karpfen, Wobla, Barsch und der Hering. 1900 waren in der Fischerei auf dem Meer und in den Mündungen 46,576 Personen, im Ober- und Mittellauf 11,328 Personen beschäftigt. Der Ertrag war 11,685 Ton. rote Fische, 114,945 T. Weißfische, 28,307 T. Heringe, 493,427 kg schwarzer und 2,169,851 kg roter Kaviar, 230,821 kg andre Produkte, und sein Wert berechnete sich auf 21,1 Mill. Rubel. Vgl. V. Ragosin, Die W. (russ., Petersb. 1880–90, 3 Bde.); Roskoschny, Die W. und ihre Zuflüsse (Leipz. 1887); Lender, Wolgaführer (4. Aufl., Petersb. 1892); Jogel, Untersuchungen der W. und ihres Bassins (russ., das. 1884); Semenow, Rußland. Bd. 1 und 6 (russ., das. 1899–1901); Renner, Die W. als Schiffahrtsstraße (Berl. 1899); Borodin, Die Wolga-Kaspische Fischerei und ihre wirtschaftliche Bedeutung (russ., Petersb. 1903).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 20. Leipzig 1909, S. 732-733.
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