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Wunder

[767] Wunder (lat. Miraculum), nach scholastischer, auch von der protestantischen Orthodoxie übernommener Bestimmung ein Ereignis, das den gewöhnlichen Lauf der Dinge durchkreuzt, aufhebt und daher auf das außerordentliche Eingreifen einer über die Natur erhabenen Gottheit zurückgeführt werden muß. Von diesem mit Hintansetzung der Ordnung des natürlichen Geschehens oder im Gegensatze zu ihr sich vollziehenden, dem absoluten W., unterscheidet man die aus unsrer jeweiligen Kenntnis der Naturgesetze nicht erklärbaren Begebenheiten als relative W. Für die antike Weltbetrachtung verstand sich die Möglichkeit des Wunders von selbst, und als W. galt alles, was, weil das religiöse Gefühl erregend, auf unmittelbares Einwirken der Gottheit zurückwies, wobei es dem gesunden religiösen Gefühl weniger auf die Durchbrechung des Naturzusammenhangs als auf die Vergegenwärtigung des zwecksetzenden Willens Gottes ankam. So erschien dem Volk Israel wenigstens die eigne Geschichte und erscheint dem Katholizismus die Geschichte der Kirche als wunderbar. Der protestantische Supernaturalismus hat das Gebiet des Wunders auf den Verlauf der biblischen Geschichte, ja in neuesten Zwittergestalten fast bloß noch auf die sogen. Heilstatsachen, d. h. namentlich auf die im apostolischen Symbol namhaft gemachten Ereignisse, beschränkt. Als Gegner der Wundertheorie traten Spinoza aus philosophischen, der englische Deismus und Hume teilweise auch aus historischen Gründen auf. Im Gegensatz dazu übernahm die theologische Apologetik seit Mitte des vorigen Jahrhunderts die schwierige Aufgabe der Verteidigung des Wunders in historischer wie philosophischer Hinsicht. Die freigerichtete Theologie hingegen hält auch aus religiösem und sittlichem Interesse an dem Gedanken der Unverbrüchlichkeit der Naturordnung fest, der eine Grundvoraussetzung aller modernen Wissenschaft bildet. Vgl. Ménégoz, Der biblische Wunderbegriff (mit Nachträgen deutsch von Baur, Freiburg 1895); Ziller, Die biblischen W. (Tübing. 1904); Traub, Die W. im Neuen Testament (Halle 1905); Beth, Die W. Jesu (Großlichterfelde 1905).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 20. Leipzig 1909, S. 767.
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