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Epistŏlae obscurōrum virōrum

[875] Epistŏlae obscurōrum virōrum (Briefe der Dunkelmänner), Titel einer Sammlung satirischer Briefe aus dem Anfang des 16. Jahrh. Ein 1506 getaufter Kölner Jude, Johann Pfefferkorn, suchte, von seinen frühern Glaubensgenossen angefeindet, aus Rache beim Kaiser Maximilian ein Mandat zur Verbrennung aller jüdischen Bücher, die Bibel ausgenommen, auszuwirken. Reuchlin, mit andern vom Kaiser über diesen Vorschlag befragt, sprach sich 1510 entschieden gegen ihn aus. Pfefferkorn gab darauf im April 1511 eine Schmähschrift gegen Reuchlin: »Der Handspiegel«, heraus, und dieser antwortete im Herbst 1511 in dem »Augenspiegel«. Da veröffentlichte die theologische Fakultät der Universität Köln, der Ketzermeister Jakob Hoogstraten an der Spitze, die an Anklagen gegen Reuchlin reichen »Articuli sive propositiones de iudaico favore etc.« (Köln 1512), denen ein gleichgestimmtes lateinisches Gedicht von Ortwin Gratius, Professor der klassischen Literatur an der Universität Köln, vorausging. Die darauf erfolgte »Defensio Reuchlini contra calumniatores suos Colonienses« (Tüb. 1513) fließt von persönlichen Angriffen gegen seine Gegner über. Zwar stellte ihm Gratius die »Praenotamenta contra omnem malevolentiam« (ohne Ort und Jahr) entgegen, doch Reuchlin suchte Deckung durch eine Sammlung an ihn gerichteter Briefe: »Clarorum virorum epistolae latinae, graecae et hebraicae variis temporibus missae ad J. Reuchlinum« (Tübing. 1514, 2. durch ein zweites Buch vermehrte Ausg., Hagenau 1519). Bald erregte der Streit die gesamte gebildete Welt. Auf seiten der Kölner standen die theologischen Fakultäten von Mainz, Erfurt, Löwen und Paris, auf seiten Reuchlins fast sämtliche Humanisten. Ein von den Kölnern anhängig gemachter Prozeß wurde 1514 von dem Bischof von Speyer für Reuchlin entschieden; als diese jedoch nach Rom appellierten, wurde er lange verschleppt und endlich 1520 im Hinblick auf die Ausbreitung der Reformation zu ungunsten Reuchlins beendigt. In diesen Streit fallen die »Epistolae obscurorum virorum ad Ortuinum Gratium«. Sie bestehen 1) aus den 41 Briefen der 1. und 2. Ausgabe, die angeblich in Venedig bei Minutius (absichtlich statt Manutius), in der Tat aber wohl zu Hagenau bei W. Angst im Herbst 1515 und Anfang 1516 erschienen: 2) aus dem zur 3. Ausgabe (ebenfalls 1516) hinzugekommenen Anhang von 7 Briefen; 3) aus der 1517 bei Froben in Basel erschienenen zweiten Sammlung mit 62 Briefen, wozu 4) in der 2. Ausgabe (ebenfalls 1517) nochmals ein Anhang von 8 Briefen kam. Eine sogen. dritte Sammlung (zuerst 1689 gedruckt) umfaßt vermeintliche Seitenstücke dazu aus verschiedener Zeit und hat mit dem ursprünglichen Buch nichts mehr zu schaffen. Die Briefe sind als Gegenstück zu den »Epistolae clarorum virorum ad Reuchlinum« von angeblichen Gesinnungsgenossen des Gratius an diesen geschrieben und persiflieren in schlechtestem Küchenlatein die Unwissenheit und das Wohlgefallen an unnützen Spitzfindigkeiten, die Genußsucht und den Dünkel bei den Mönchen und Obskuranten; zugleich aber berichten sie von den Reuchlinisten und reden so selbst der Wissenschaft das Wort. Sie haben der Reformation wesentlich vorgearbeitet. Nach den neuern Untersuchungen (vgl. Kampschulte, De Croto Rubiano, Bonn 1862, und »Die Universität Erfurt in ihrem Verhältnis zu dem Humanismus und der Reformation«, Trier 1858–60, 2 Bde.; Böckings Kommentar zu den Briefen im Supplement zu Huttens Werken, s. unten; Strauß, Ulrich von Hutten, 4. Aufl., Leipz. 1878) entstand die erste Anregung dazu in dem Kreise jüngerer Humanisten, der sich zu Erfurt um Mutianus sammelte; der demselben angehörige Crotus Rubianus (s. d.) kann mit ziemlicher Sicherheit als der Verfasser der ersten 41 Briefe bezeichnet werden. Der Anhang zur ersten Sammlung und der Grundstock der zweiten stammen von Ulrich von Hutten, der Anhang zur zweiten rührt von verschiedenen, nicht mehr zu ermittelnden Verfassern her. Unter den zahlreichen Gesamtausgaben sind die zu Frankfurt (1643), die von Münch (Leipz. 1827), von Rotermund (Hannov. 1827, 2 Bde.) und von Böcking (Leipz. 1858, 2. Aufl. 1864) hervorzuheben. Mit Kommentar und eingehenden bibliographischen Nachweisen finden sie sich in Böckings Ausgabe von »Hutteni opera« (Supplement, Leipz. 1864–69, 2 Bde.). Eine Übersetzung ins Deutsche lieferte Binder (Stuttg. 1875; neue Ausg., Köstritz 1904). Eine Verteidigungsschrift Pfefferkorns 1516 sowie die »Lamentationes obscurorum virorum« (Köln 1518) vermochten den E. nur lahme und gezwungene Witze entgegenzustellen.

Die »Epistolae novae obscurorum virorum ex Francofurto Moenano ad Dr. Arnoldum Rugium rubrum nec non abstractissimum datae« von G. Schwetschke (Frankf. 1849; neu hrsg. mit Erläuterungen, Halle 1875) behandeln das deutsche Reichsparlament, die »Epistolae obscurorum virorum de concilio Vaticano« von demselben (Leipz. 1872) das vatikanische Konzil.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 5. Leipzig 1906, S. 875.
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