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Berufsgenossenschaften

[739] Berufsgenossenschaften, im weitern Sinn Vereinigungen von Angehörigen desselben Berufs oder derselben Berufsgruppen zwecks Förderung von Berufsinteressen. Zu ihnen zählen ebenso die alten Gilden, Innungen, Zünfte, Knappschaften wie die Gewerkvereine, die freien Unternehmerverbände, die Vereinigungen von Ärzten, Rechtsanwalten, Schriftstellern und andre freiwillige Berufsvereine, die sich die Pflege der Standesinteressen zur Aufgabe machen. Im engern Sinne versteht man darunter die im Deutschen Reich auf Grund der Unfallversicherungsgesetze neu geschaffenen korporativen Verbände der Unternehmer eines oder mehrerer verwandter Berufszweige, die als Träger der Unfallversicherung (s. d.) fungieren. Nach § 2 des Unfallversicherungsgesetzes vom 6. Juli 1884 sind die diesem Gesetz unterstehenden Industriezweige in 55 B. gegliedert; dazu kommen die auf Grund des Ausdehnungsgesetzes vom 28. Mai 1885 errichteten 2 Eisenbahn-, 3 Binnenschiffahrts-, eine Fuhrwerks-, eine Speditions-, Speicherei- und Kellerei-Berufsgenossenschaft sowie die durch das Bau- und See-Unfallversicherungsgesetz vom 11., bez. 13. Juli 1887 errichtete Tiefbau- und See-Berufsgenossenschaft, endlich die seit 1. Jan. 1897 von der Nahrungsmittel-Berufsgenossenschaft abgetrennte Fleischerei-Berufsgenossenschaft; zusammen sind es 65 industrielle B. Ferner sind gemäß § 18 und 110 des landwirtschaftlichen Unfallversicherungsgesetzes vom 5. Mai 1886: 48 land- u. forstwirtschaftliche B. teils durch die Landesgesetzgebung, teils durch den Bundesrat errichtet worden. Die B. tragen amtlich fortlaufende Nummern; die landwirtschaftlichen B. haben ihre eignen Nummern, denen ein L vorgesetzt ist. Die gewerblichen B. haben folgende Einteilung u. Sitze (Abkürzung B. auch = Berufsgenossenschaft):


1) Knappschafts-B. in Berlin;

2) Steinbruchs-B. in Berlin;

3) B. der Feinmechanik in Berlin;

4–11) Eisen- und Stahl-B., und zwar Süddeutsche in Frankfurt a. M., Südwestdeutsche in Saarbrücken, Sächsisch-Thüringische in Leipzig, Nordöstliche in Berlin, Schlesische in Breslau, Nordwestliche in Hannover, Rheinisch-Westfälische Hütten- und Walzwerks-B. in Düsseldorf, Rheinisch-Westfälische Maschinen- und Kleineisenindustrie-B. in Düsseldorf;

12) und 13) Edel- und Unedelmetallindustrie-B., und zwar Süddeutsche in Stuttgart und Norddeutsche in Berlin;

14) B. der Musikinstrumentenindustrie in Leipzig;

15) Glas-B. in Berlin;

16) Töpferei-B. in Berlin;

17) Ziegelei-B. in Berlin;

18) B. der chemischen Industrie in Berlin;

19) B. der Gas- und Wasserwerke in Berlin;

20–27) acht Textil-B., nämlich die Leinen-B. in Bielefeld, die Seiden-B. in Krefeld, die Norddeutsche Textil-B. in Berlin, die Süddeutsche Textil-B. in Augsburg, die Schlesische Textil-B. in Breslau, die Elsaß-Lothringische Textil-B. in Mülhausen i. E., die Rheinisch-Westfälische Textil-B. in M.-Gladbach, die Sächsische Textil-B. in Leipzig;

28) Papiermacher-B. in Berlin;

29) Papierverarbeitungs-B. in Berlin;

30) Lederindustrie-B. in Mainz;

31–34) vier Holz-B., nämlich die Sächsische in Dresden, die Norddeutsche in Berlin, die Bayrische in München, die Südwestdeutsche in Stuttgart;

35) Müllerei-B. in Berlin;

36) Nahrungsmittelindustrie-B. in Mannheim;

37) Zucker-B. in Berlin;

38) Brennerei-B. in Berlin;

39) Brauerei- und Mälzerei-B. in Frankfurt a. M.;

40) Tabak-B. in Berlin;

41) Bekleidungsindustrie-B. in Berlin;

42) B. der Schornsteinfegermeister in Berlin;

43–54) zwölf Baugewerks-B.;

55) Deutsche Buchdrucker-B. in Leipzig;

56) und 57) zwei Eisenbahn-B., nämlich die Privatbahn-B. in Lübeck und die Straßenbahn-B. in Berlin;

58) Speditions-, Speicherei- und Kellerei-B. in Berlin;

59) Fuhrwerks-B. in Berlin;

60–62) drei Binnenschiffahrts-B., nämlich die Westdeutsche in Duisburg, die Elbschiffahrts-B. in Magdeburg und die Ostdeutsche in Bromberg;

63) See-B. in Hamburg;

64) Tiefbau-B. in Berlin;

65) Fleischerei-B. in Lübeck.


Wie schon aus dieser Auszeichnung erhellt, erstrecken sich die industriellen B. je nach der größern oder geringern Zahl der Berufsgenossen bald über das ganze Reich, so daß die sämtlichen Angehörigen eines Berufs meiner Berufsgenossenschaft vereinigt sind, bald sind für denselben Beruf mehrere räumlich abgegrenzte B. errichtet. Jede Berufsgenossenschaft umfaßt nur die der betreffenden Gruppe angehörigen unfallversicherungspflichtigen Betriebe und Betriebszweige; außerdem aber auch die Nebenbetriebe der betreffenden Unternehmer, auch wenn diese letztern, falls sie als Hauptbetriebe anzusehen wären, einer andern Berufsgenossenschaft angehören würden. 29 B. umfassen das ganze Reich, 24 das Gebiet oder Gebietsteile mehrerer Bundesstaaten; 12 erstrecken sich auf das Gebiet je eines einzelnen Bundesstaates. Die verschiedenen B. sind numerisch sehr ungleich stark besetzt, ihre Bezirke fallen nicht zusammen, sondern kreuzen einander, so daß es an jedem Orte so viele B. gibt, als versicherungspflichtige Industriezweige vertreten sind. Die Gliederung der industriellen B. nach sachlichen, nicht nach rein territorialen Gesichtspunkten hat den Vorteil, daß die besondern Verhältnisse der einzelnen Industriezweige, namentlich rücksichtlich der Erlassung von Unfallverhütungsvorschriften, besser zum Ausdrucke gelangen können. Die land- und forstwirtschaftlichen B. schließen sich dagegen an die Verwaltungseinteilung der einzelnen Bundesstaaten an und erstrecken sich auf die einzelnen Provinzen der größern, bez. auf das ganze Staatsgebiet der kleinern Bundesstaaten. Doch sind an einzelne preußische landwirtschaftliche B. auch Staatsgebiete benachbarter kleiner Bundesstaaten angeschlossen.

Die B. sind juristische Personen mit Selbstverwaltung. Bei den land- und forstwirtschaftlichen B. kann allerdings durch Landesgesetz oder von der Genossenschaftsversammlung die Verwaltung an Organe der ständischen Selbstverwaltung oder an sonstige Beamte übertragen werden. Doch müssen die wichtigsten Angelegenheiten, insbes. die Beschlußfassung über das Genossenschaftsstatut und dessen Abänderungen, den Mitgliedern der Berufsgenossenschaft vorbehalten bleiben. Zur Erleichterung der Durchführung ihrer Aufgaben können die B. in örtlich abgegrenzte Sektionen eingeteilt werden. Die Organe der Berufsgenossenschaft sind: die Genossenschaftsversammlung, der Genossenschaftsvorstand, die Sektionsversammlung und der Sektionsvorstand und Vertrauensmänner.[739] Diese Organe haben mit Ausnahme der Beauftragten ihr Amt als Ehrenamt zu verwalten und können nur Entschädigung für Zeitverlust erhalten. Außerdem sind jetzt wegen zu großer Geschäftslast der B. bei allen gewerblichen B. besoldete Geschäftsführer angestellt, die in der Praxis nicht selten den ehrenamtlichen Grundcharakter der Genossenschaftsverwaltung durch den Genossenschaftsvorstand in den Hintergrund drängten. Die jüngste Gesetzgebung über Unfallversicherung (s. d.) von 1900 sucht aber durch vom Reichsversicherungsamt zu erlassende Vorschriften der Übertragung der Geschäfte an Geschäftsführer Grenzen zu ziehen. An Stelle der bisherigen Beauftragten der B., die sogen. Revisionsingenieure, die zwei sehr verschiedenartige Funktionen zu erfüllen hatten, die Kontrolle der technischen Betriebseinrichtungen und die Prüfung der Geschäftsbücher und Listen zwecks Vergleichung mit der der Beitragshöhe als Maßstab dienenden Lohnnachweise, treten mit der neuen Gesetzgebung zwei Beamtenkategorien: a) die technischen Aufsichtsbeamten der Genossenschaft, b) die Rechnungsbeamten der B. Die Arbeitnehmer nehmen an gewissen Aufgaben der B. teil, insbes. an der Wahl der Schiedsgerichte, an den Unfalluntersuchungen und an den Beratungen über Unfallverhütungsvorschriften.

Die Aufgaben der B. bestehen in der Durchführung der Unfallversicherung nach dem Gesetz, bez. dem von ihnen selbst erlassenen Genossenschaftsstatut. Insbesondere haben sie, und zwar die gewerblichen B. auf Grund des Gesetzes, den Gefahrentarif aufzustellen, die Betriebe in diesen einzuschätzen, die Beiträge festzusetzen und einzuziehen, die Renten festzustellen. Auch können sie Unfallverhütungsvorschriften für ihre Mitglieder sowohl als für die versicherten Arbeiter erlassen, ihre Befolgung überwachen und gegen Zuwiderhandelnde durch Einschätzung in höhere Gefahrenklassen oder durch Geldstrafen vorgehen. Das Unfallversicherungsgesetz von 1900 hat den Wirkungskreis der B. erweitert: 1) dürfen sie Heil- und Genesungsanstalten errichten, 2) Einrichtungen treffen: a) zur Versicherung der Mitglieder (Unternehmer) und der diesen gleichgestellten Personen (Betriebsaufseher etc.) gegen Haftpflicht aller Art, jedoch um den Anreiz zur Verhütung von Unfällen nicht allzusehr zu vermindern, gegen diejenige Haftpflicht, die nach Maßgabe der Unfallversicherung neben dieser auf ihnen lasten blieb (s. Haftpflicht), nur für zwei Drittel des von ihnen zu tragenden Risikos; b) zur Errichtung von Rentenzuschuß- und Pensionskassen für Betriebsbeamte sowie für Mitglieder der Berufsgenossenschaft, die bei ihr versicherten Personen, ihre Beamten und die Angehörigen dieser Personen. Die B. unterstehen der Aussicht des Reichsversicherungsamtes (s. d.), bez. der Landesversicherungsämter (s. Landesversicherungsamt), deren Errichtung für B. zugelassen ist, deren Bezirk sich nicht über das Gebiet eines Bundesstaates erstreckt. Diesen Aufsichtsbehörden liegt ob: die Genehmigung des Statuts und seiner Abänderungen, des Gefahrentarifs, der Unfallverhütungsvorschriften etc., die Prüfung der Geschäftsführung, die Entscheidung von Streitigkeiten über die Rechte und Pflichten der Genossenschaftsorgane und von Strafbeschwerden, die Überwachung der Genossenschaftsämter rücksichtlich der Befolgung der gesetzlichen und statutarischen Vorschriften. Die von den B. oder ihren Organen getroffenen Entschließungen über die Bewilligung oder Ablehnung von Unfallrenten unterstehen zunächst der Berufung bei den für die einzelnen B. errichteten Schiedsgerichten, eventuell dem Rekurs an das Reichs-, bez. Landesversicherungsamt. Zur gemeinsamen Übernahme der aus der Unfallversicherung sich ergebenden Lasten können sich mehrere B. zu Rückversicherungsverbänden zusammenschließen. Leistungsunfähige B. können durch den Bundesrat aufgelöst werden. Bezüglich der Knappschafts-B. gelten einige besondere Bestimmungen (§ 74 des Unfallversicherungsgesetzes); über besondere Einrichtungen bei den Baugewerks-B. s. Unfallversicherungsanstalten; über die durch das Gesetz von 1900 neubegründete Seeversicherungsanstalt s. d.

Endlich ist zu erwähnen, daß sich von den gewerblichen B. 45 zu einem Verband zusammengeschlossen haben, der am 27. Juni 1887 zu Frankfurt a. M. ins Leben trat. Zweck des Verbandes ist, einen Mittelpunkt für den Meinungsaustausch und den persönlichen Verkehr der B. zu bilden und gemeinsame Angelegenheiten zu vertreten und zu fördern. Organ des Verbandes ist neben dem Berufsgenossenschaftstag der geschäftsführende Ausschuß, der aus mehreren B. sich zusammensetzt und den Vorsitzenden wählt. Bis jetzt fanden 12 Berufsgenossenschaftstage an verschiedenen Orten statt. Der Verband, der dem Reichsversicherungsamt als beratendes. und vermittelndes Organ zur Seite steht, hat sich manche Verdienste um die Entwickelung der Aufgaben der B. erworben, so durch seine Bemühungen um Errichtung von Unfallkranken- und Rekonvaleszentenhäusern, von Pensionskassen für die Beamten der B., von sogen. Unfallstationen (s. d.) zur ersten Hilfeleistung bei Unfällen etc. – Über die deutschen B. liegen für 1900 folgende Zahlen vor:

Tabelle

Organ der B. ist »Die Berufsgenossenschaft« (Berl., seit 1886). Vgl. »Amtliche Nachrichten des Reichsversicherungsamtes«; Graf, Bedeutung, Zweck und Ziel der B. (Leipz. 1902).

In der österreichischen Arbeiterversicherungsgesetzgebung gibt es neben den regelmäßig auf territorialer Grundlage aufgebauten Versicherungsanstalten ausnahmsweise auch »berufsgenossenschaftliche« Versicherungsanstalten. Doch ist von diesen bisher nur die eine der österreichischen Eisenbahnen errichtet worden. Ferner sollten die nach Gesetzentwürfen von 1893 und 1896 geplanten, zu Schutz und Förderung des landwirtschaftlichen Berufs bestimmten Genossenschaften (für Errichtung von Lager-, Schlacht-, Backhäusern, An- und Verkauf, Viehzuchtsgenossenschaften, Arbeitsvermittelung etc.) den Namen »B.« tragen.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1905, S. 739-740.
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