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Augenmaß

[108] Augenmaß, die Vergleichung und Schätzung von Raumgrößen auf Grund des unmittelbaren sinnlichen Eindrucks, ohne Zuhilfenahme von Meßinstrumenten. Dabei sind drei Fälle zu unterscheiden, je nachdem es sich bloß um die Vergleichung der scheinbaren Größen von Objekten (also um Abstände innerhalb des Gesichtsfeldes), oder um die ihrer wahren Größe, oder um Schätzung ihrer Entfernung vom Sehenden handelt. Am genauesten ist das A. im ersten Fall und besonders dann, wenn die Objekte (z. B. die Linien einer Zeichnung) in gleicher Entfernung vom Auge sich befinden (wo die wahren Größen den scheinbaren proportional sind). Trotzdem treten gerade hierbei eigentümliche konstante Täuschungen auf, die auch durch Übung nicht zu beseitigen sind. So wird eine vertikale Gerade gegenüber einer horizontalen stets um 1/7-1/7 überschätzt (ein Quadrat erscheint also als Rechteck), eine mehrfach unterbrochene Gerade länger als eine ununterbrochene, spitze Winkel werden über-, stumpfe unterschätzt etc. Alle diese Erscheinungen erklären sich ungezwungen aus der Annahme, daß unser Urteil über Ausdehnungen im Gesichtsfeld sich auf die Bewegungsempfindungen des Auges stützt, und daß speziell der Kraftaufwand, der erforderlich ist, um mit dem Blick eine Strecke zu durchlaufen, den Maßstab für die Längenschätzung darstellt. Weit unsicherer ist das A. im zweiten und dritten Falle. Wenn der Abstand des Objekts oder seine wahre Größe schon bekannt sind, dann läßt sich allerdings unter Berücksichtigung der scheinbaren Größe die wahre Größe, bez. der Abstand bei fortgesetzter Übung mit zunehmender Genauigkeit angeben. Fehlt diese Kenntnis, so beurteilen wir die Entfernung nach der Zahl und Art der zwischenliegenden Objekte (der Horizont erscheint weiter als der Zenit, weil der Zwischenraum bei letzterm ganz leer ist) und nach dem Grade der Deutlichkeit des gesehenen Gegenstandes (Luftperspektive); dagegen besitzen wir für die Größenschätzung überhaupt keine unmittelbaren Anhaltepunkte und gelangen deswegen regelmäßig zu einem falschen Urteil, wenn die Entfernung falsch geschätzt worden ist.[108]

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1905, S. 108-109.
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