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Sterne, Lorenz

[407] Sterne, Lorenz. Zwei Geister waren es vornehmlich, welche vor Lavater und der späteren politischen Krisis auf das 18. Jahrhundert Beschlag legten und die zwei literarischen Hauptrichtungen der damaligen Zeit als tonangebende Musageten leiteten: Rousseau, der Verfasser der Selbstgeständnisse, und Lorenz S. Während jener über halb Europa durch seine melancholischen, scheinbar sein eigenes Selbst schonungslos enthüllenden, und doch nur mit[407] Offenheit und Melancholie kokettirenden »Confessions« die wehmüthige, schmerzenreiche Sucht verbreitete, sich verkannt zu sehen, im willenlosen Abendon an das Zufällige, in selbstgefälligen Zähren gegen wenige vertraute Freunde, oder in noch glücklicherem Falle zurückgezogen auf eine Insel im einsamen See über das Verkanntsein und die sympathielosen Mißverständnisse der Welt süß zu brüten: – schlug dieser zuerst als »Yorik« den empfindsamen Ton an, der, wirksamer als Richardson's (s. d.) moralisches Lamento, ganz Deutschland unter Thränen setzte, die Schminke von den Wangen schmolz und mit seinen silberhellen, tändelnden Trauerglöckchen jene thränenselige Werther- und Siegwartsperiode der Sentimentalität einläutete, die erst der alte »Götz von Berlichingen« mit Sporenklang und ritterlichem Fluche aus Thuiskon's Musenhalle wieder vertreiben konnte. Da regnete es urplötzlich von empfindsamen Reisen zu Wasser und zu Land; sich selbst wollte man genießen ohne Ekel in alle Ewigkeit; wer den Tag vorher nichts bei dem Anblicke des gestirnten Himmels hatte denken können, schrieb nun Andachten über eine Fliege; tausend Yoriks tanzten und schrieben in Spirallinien dem unbekannten Ziele zu, wo die bekannte Thränenquelle unter Vergißmeinnicht und Nachtschatten zu Tage fluthete, und keine Dame von Geschmack und zartem Sentiment, Dank sei es dem empfindsamen Liederdichter Jacobi! konnte auf ihrem Toilettentischchen die Schnupftabaksdose à la Lorenzo missen. Und doch war gerade Lorenz S. vorzugsweise der echte, gesunde Humorist, der, für sich selbst immer guten Muths, nur bei fremdem Elende weinte, der ganz so, wie es seine britische Natur gebot, unter Thränen lächelte und unter Lachen klagte, kurz, der vor Allen jenes seltene, bezaubernde Gemisch von Ironie, treffendem Witz und tiefem Gefühl besaß, welches sich eher fühlen als erklären läßt, – den Humor! 1767 erschien unter dem Namen »Yorik« von ihm die »Empfindsame Reise durch Frankreich und Italien« (sentimental iourney trough France and Italy), die selbst noch einmal reisen[408] mußte, und zwar um die halbe Welt, – ein freundlicher, krystallheller See, von Thränenweiden umschattet, auf dem Blumeneilande in der Mitte die träumende Statue der Wehmuth, während rings die Ondinen sich einander neckisch mit Wasser begießen und untertauchen, und die Delphine in lustigem Spiele kreisen. 8 Jahre vorher hatte S. die ersten Bände seines Romans: »Leben und Meinungen des Tristram Shandy« (»The life and opinions of Tristram Shandy«) herausgegeben, denen einige Jahre darauf die 7 anderen Theile folgten, – recht eigentlich eine Dichtung des menschlichen Herzens, in welcher S. selbst an der Spindel der Poesie und des lauschenden Kunstsinns die goldenen Faden dreht zu jenem wundersamen, geheimnißvollen Gewebe, welches wir das menschliche Herz nennen. Noch besitzen wir von ihm Predigten und vertraute Briefe. – S. wurde 1713 zu Elonmell in Irland geb., studirte in Cambridge Theologie, verlebte sodann ziemlich lustig und sorgenfrei als ein eben nicht allzugewissenhafter Familienvater seine Lebenszeit in Sutton von dem fetten Ertrage zweier Pfründen und seiner Schriften, und starb im März 1768. Leider entsprach sein eigener Charakter nur wenig der Zartsinnigkeit, die uns so wohlthuend aus seinen Werken entgegenweht; denn nach Lichtenberg's in England über ihn selbst angestellten Nachforschungen war er ein überlästiger und wenig distinguirender Schmarotzer voll jener Unverschämtheit, die sich so selten mit wahrem Genie paart.

S....r.

Quelle:
Damen Conversations Lexikon, Band 9. [o.O.] 1837, S. 407-409.
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