ADB:Wichern, Johann Hinrich
*): Johann Hinrich W., verdient und berühmt als Begründer und erster Leiter des „Rauhen Hauses“ und der mit diesem Rettungshause verbundenen Brüderanstalt wie als Organisator der inneren Mission in der evangelischen Kirche Deutschlands überhaupt, wurde am 21. April 1808 in Hamburg geboren und starb in Horn bei Hamburg am 7. April 1881. Hinrich W. war das älteste von sieben Kindern des bürgerlichen Notars und beeidigten Translators Joh. Hinr. W. († 1823) und dessen Gattin Karoline geb. Wittstock (1784–1861). Der Vater, sieben lebender Sprachen kundig, bei schwacher Gesundheit mühsam arbeitend, dabei gemüthvoll, fromm, musikalisch, hinterließ die gleichgesinnte Frau in dürftiger Lage. Der älteste reichbegabte Sohn, der 1813 während der Belagerung mit den Eltern aufs Land hatte fliehen müssen, erlag in den Jahren nach des Vaters Tode fast der Last musikalischer und anderer Privatstunden, die er neben dem Besuche des von Gurlitt im streng vernunftgläubigen Sinne geleiteten Johanneums auf sich nahm, bis er (Januar 1826) die Anstalt vorzeitig verließ und bei dem Schul- und Institutsvorsteher Pluns in Pöseldorf als Gehülfe eintrat. Die im Elternhause eingesogene kirchliche Frömmigkeit steigerte sich bei W. unter dem unduldsamen Drucke des herrschenden Rationalismus und dem Einflusse der mit Macht emporstrebenden positiven Gläubigkeit früh zu glühendem Eifer für eigene Heiligung und Bau des Reiches Gottes in der geliebten Vaterstadt. Früh fand der lebhafte Jüngling vertrauten Verkehr und ehrende Beachtung im Kreise der angeseheneren geistlichen wie weltlichen Vertreter moderner Kirchlichkeit in Hamburg und Umgegend: der Pastoren Wolters, Strauch, Rautenberg, John, Mutzenbecher, Joh. Claudius zu Sambs, des Senators Hudtwalcker, Syndikus Sieveking, Professors Hartmann († 1826) u. A. Bei seinem Principal Pluns vernahm er zuerst von den Anstalten Joh. Daniel Falk’s zu Weimar und des Grafen von der Recke-Volmerstein zu Overdyck-Düsselthal für Rettung verwahrloster Kinder und beschloß, diesen Vorbildern später zu folgen. Der Umgang mit edlen Frauen gleicher Richtung wie Louise Reichardt († 1826), der Componistin, und Amalie Sieveking (1794–1859) bestärkte ihn in solchen Ideen, die jedoch einstweilen in frohem jugendlichem Verkehre mit jungen Freunden, darunter auch den Künstlern Erwin und Otto Speckter, Julius Milde u. A., sowie in ernsten, am akademischen Gymnasium wieder aufgenommenen philologischen Studien (Herbst 1827) ihr Gegengewicht fanden. October 1828 bezog er, mit Stipendien und Privatspenden auskömmlich, mit besten Empfehlungen reichlich versehen, die Universität Göttingen, wo er als Studiosus der Theologie in drei Semestern namentlich an Friedrich Lücke sich innig anschloß. Während der folgenden drei Semester in Berlin hörte er mit Achtung Hegel und Schleiermacher, mit besonderer Verehrung Neander, durch den er auch dem berühmten Prediger Johannes Goßner sowie den bekannten Menschenfreunden Dr. Julius und Baron v. Kottwitz näher trat. Außer den Hamburger Alters- und Studiengenossen – Behrmann, Ludwig Duncker, Ed. Huther, Köster, Krabbe, Mönckeberg, Pehmöller – seien unter Wichern’s Freunden der Hannoveraner Friedrich Münchmeyer, später als strenger Lutheraner dem Freunde entfremdet, und der Lübecker Paul Curtius († 1838 als Pastor zu Alten Gamme in den Vierlanden) erwähnt. Am 2. September 1831 kehrte W. in seine Vaterstadt zurück und nahm sofort die frühere private Lehrthätigkeit wieder auf, daneben dem aufkeimenden christlichen Vereinsleben wie der Armen- und Krankenpflege eifrigst zugewandt. Nach rühmlich bestandenem Examen (April 1832) als „Candidat W.“ anerkannt, was er bis zu seiner Berufung nach Berlin blieb, unterschrieb er die symbolischen Bücher [776] der lutherischen Kirche nicht ohne den Vorbehalt, sich nicht an deren Buchstaben binden zu können, wie er denn im Sinne Neander’s Hengstenberg’s vielbesprochene Anrufung der Staatsgewalt gegen die Hallenser Rationalisten Wegscheider und Gesenius entschieden verwarf und ebenso besonnen dem damals zuerst lauter erschallenden Rufe nach Trennung von Staat und Kirche trotz seines gespannten Verhältnisses zu dem in Hamburg noch ungebrochen herrschenden Rationalismus entgegentrat. Juni 1832 übernahm er die Stelle des Oberlehrers an der vom Pastor Rautenberg zu St. Georg (1825) begründeten Sonntagsschule und trat gleichzeitig dem Rautenberg’schen „Besuchsvereine“ bei, als dessen Mitglied er tiefer in „Hamburgs wahres und geheimes Volksleben“ (Titel eines im August 1832 begonnenen tagebuchartigen Heftes) und dessen Schäden einblickte. Aus dem Besuchsvereine drang mit neuem Nachdrucke der in Hamburg bereits öfter verhandelte Gedanke eines Rettungshauses oder – wie ihn W. schon damals kühn erweiterte – eines Rettungsdorfes in weitere Kreise. Zusammentreffen günstiger Umstände, besonders ein für diesen Zweck verwendbares Legat einfacher Bürgersleute, des Ehepaares Gerkens, und Beihülfe in Rath und That seitens des Senators Hudtwalcker wie des Syndikus Sieveking ermöglichten diesmal die Verwirklichung. Am 12. September 1833 ward die Anstalt im sog. Rauhen Hause (eigentlich: Ruges Hûse) zu Horn, das Sieveking dafür zunächst miethweise hergegeben, begründet. W. bezog mit Mutter und Schwester am 31. October das dürftige Haus, das am Jahresschlusse bereits zwölf Zöglinge zählte. Am 29. October 1835 konnte er in das inzwischen neu erbaute sog. Mutterhaus seine neuvermählte Gattin, Amanda Böhme, Tochter eines Brandversicherungsdirectors und Nachkommin Jakob Böhme’s, des Görlitzer Philosophen, heimführen, während zu den vorhandenen drei im Schweizerhause untergebrachten Knabenfamilien nun auch eine Mädchengruppe im alten Hause trat. Frau Amanda W., mit ihrem späteren Gatten durch das Interesse an seinen Liebeswerken zuerst zusammengeführt, hat ihn darin treulich unterstützt, ihm vier Söhne und fünf Töchter geboren und ihn überlebt. Die Rettungsanstalt erweiterte sich durch den Bau neuer Wohnhäuser und Werkstätten, deren mehrere von W. mit seinen Gehülfen und Zöglingen ohne Mitwirkung zünftiger Bauhandwerker hergestellt wurden, in der That bald zu einem kleinen, im parkartigen Gelände zerstreuten Rettungsdorfe, das trotz alles Spottes und aller heftigen Angriffe nah und fern Achtung, Aufmerksamkeit und thätige Beihülfe erwarb. Unmittelbarer noch wirkte W. nach außen durch das der Vorsicht des Curatoriums abgerungene, allmählich erweiterte Gehülfeninstitut oder die Brüderanstalt. Im ersten Jahresberichte (1842) bezeichnete er diese Anstalt als „Seminar für die innere Mission unter den deutschen Protestanten“. Damit war die Gesammtheit der Arbeiten zur Abhülfe leiblicher und geistlicher Noth im Sinne der evangelischen Kirche, auf welche Wichern’s umfassender Plan berechnet war, der treffende Name und bleibende Stempel aufgedrückt. Schon seit Johannes Falk war der Vergleich solcher Werke suchender Christenliebe mit der Ausbreitung des Evangeliums jenseit der Grenzen der Christenheit üblich; auch in Hamburg. W. selbst faßte früh sein Lebensideal unter dem beide Thätigkeiten einschließenden Bilde des Menschenfischers (Luk. 5) auf. Als eigentliche, sozusagen gemünzte, termini technici aber waren die Namen „äußere und innere Mission“ soeben zuerst von Wichern’s verehrtem Lehrer Abt Lücke in Göttingen, wenn nicht ganz in Wichern’s, doch in nah verwandtem Sinne gebraucht. Lücke hatte am 13. November 1842 einen Vortrag gehalten über „die zwiefache, innere und äußere Mission der evangelischen Kirche, ihre gleiche Nothwendigkeit und nothwendige Vereinigung“ und ihn dem Schüler zur Veröffentlichung für seine neue, mit dem Rauhen [777] Hause verbundene Buchdruckerei überlassen. Die Druckerei des Rauhen Hauses war Februar 1842 eröffnet und ward 1844 mit eigenem förmlichem Verlagsgeschäfte („Agentur des Rauhen Hauses“) verbunden. Als Erstling des später zu ansehnlichem Umfange herangewachsenen Verlages erschien seitdem die Zeitschrift „Fliegende Blätter aus dem Rauhen Hause“. Stellt man sich alle diese vielverzweigten Unternehmen trotz einzelner Schwierigkeiten und Fehlschläge in schwellendem Aufblühen, Wichern’s persönliche Verbindungen in lebendigster Zunahme, ihn selbst in gehobenster freudigster Zuversicht vor, so hat man ein Bild seiner ganzen Lage in der Zeit vor 1848. Nur muß noch nachgeholt werden, daß er in den vierziger Jahren besonders enge Bande mit den leitenden – staatlichen wie kirchlichen – Kreisen Berlins knüpfte, namentlich mit dem Cultusminister Eichhorn, dessen Mitarbeiter, Geheimem Rathe Stiehl, Oberhofprediger Snethlage, General v. Gerlach, Graf Eberhard Stolberg u. A. Schon 1846 hatte er auch beim Könige Friedrich Wilhelm IV. Audienz, den besonders Wichern’s Bestrebungen, die Gefangenenpflege zu bessern, interessirten. Im März 1848 geleitete W. persönlich eine Anzahl seiner Brüder nach Pleß in Oberschlesien zur Pflege unter den Typhuswaisen. Auf der Rückreise für den 18. März war er zu abermaliger persönlicher Aussprache mit dem Könige ins Schloß bestellt. Der Berliner Aufstand vereitelte die Audienz. So kam es, daß W. in Berlin als Augenzeuge den Ausbruch der Krisis miterlebte, die auch in sein Leben und Lebenswerk mächtig eingreifen sollte.
WichernDas gewaltsame Hervorbrechen zerstörender Kräfte in der Bewegung von 1848 erschütterte natürlich auch Wichern’s lebhaft für Volkswohl empfindendes Gemüth. Im ganzen aber sah er darin den thatsächlichen Beweis für seine oft wiederholten Warnungen und damit eine Wendung der Dinge, die dem leitenden Gedanken seines Lebens zu gute kommen mußte. Unter dem frischen Eindrucke der Berliner Märztage schrieb er in den „Fliegenden Blättern“ den Aufsatz: „Die Revolution und die innere Mission“. Darin heißt es: „Die innere Mission hat mit dem, was seit dem 24. Februar 1848 in Europa geschehen, ein Unberechenbares gewonnen. Das seit jenem Ereigniß enthüllte Europa, Tausende von Thatsachen, die sich täglich überstürzen, – – – dictiren die Nothwendigkeit der inneren Mission; – oder wer vermag nunmehr noch ihre Nothwendigkeit oder ihr Recht zu bestreiten?“ Unbeirrt durch den Lärm der Zeit setzte W. im besonderen amtlichen Auftrage sein Bemühen um verständige Ordnung der Waisenpflege in Oberschlesien fort, wobei er sich und seinen Brüdern volle Achtung auch in katholischer Umgebung und bei katholischen Mitarbeitern erwarb. Im September 1848 bereiste er zu diesem Zwecke als Mitglied einer Commission das Nothstandsgebiet. Schon zuvor – April d. J. – war der Beschluß gefaßt, den besonderen hamburgischen Charakter des Rauhen Hauses aufzugeben und die Anstalt, ihrer thatsächlichen Bedeutung gemäß, ausdrücklich dem gesammten Vaterlande zur rettenden Kinderpflege wie zur Bildung von Helfern für die innere Mission zu widmen. Von Oberschlesien reiste diesmal W. sofort nach Wittenberg zum ersten deutschen evangelischen Kirchentage, auf dem am 21. September er erst nicht mühelos den würdigen Platz in der Tagesordnung für die innere Mission erstritt, dann aber mit gewaltiger Stegreifrede alle Theilnehmer hinriß und es durchsetzte, daß Fürsorge für die gefährdeten, verirrten und bedrückten Mitglieder im Sinne der inneren Mission als heilige Pflicht der deutschen evangelischen Gesammtkirche anerkannt und die Niedersetzung eines Centralausschusses für innere Mission beschlossen wurde. Gewaltiger Aufschwung des Interesses für Wichern’s Sache und infolge dessen Hochfluth von Anfragen und Ansprüchen an ihn war die nächste Folge davon. Am 10. November constituirte sich in Hamburg der erste der bald zahlreichen [778] Vereine für innere Mission, in den nächstfolgenden Tagen zu Berlin der Centralausschuß, in dem unter Vorsitz v. Bethmann-Hollweg’s mit W. Männer wie Stahl und v. Mühler zusammentagten. Unmittelbar darauf ließ W. vom Verwaltungsrathe des Rauhen Hauses – unter Verzicht auf sein Gehalt, den eines hochherzigen Kaufmannes Spende ihm ermöglichte, – für ein Jahr und einen Monat zu der ihm jetzt aufgedrängten weiteren Thätigkeit sich ausdrücklich ermächtigen. In jenen Tagen sprach Friedrich Wilhelm IV. das prophetische Wort: „Wenn wir einmal alle nicht mehr sind, wird man erst sehen, was für ein Werk das ist. Gott würdigt uns Gärtner zu sein; die Schatten der Bäume werden über unsere Gräber fallen“. Die zunächst vorläufig gewonnene und seit Beginn 1850 durch Bestellung eines Inspectors und ständigen Vertreters am Rauhen Hause – Th. Rhiem – dauernd gesicherte Freiheit der Bewegung nutzte W. sofort in den Jahren 1849 und 50 zu zahlreichen Reisen in alle Theile Deutschlands, auf denen überall das erwachte Streben für evangelische Liebesthätigkeit angeregt, berathen und organisirt ward. Freilich erwachte und erstarkte mit dieser Blüthe der inneren Mission zugleich der doppelte Gegensatz von der radical-liberalen wie von der reactionär-kirchlichen, namentlich der sog. streng lutherischen Seite. Besonders schmerzlich war es für W., daß sein Streben in den ernstkirchlichen Kreisen der sog. confessionellen Lutheraner Frankens, Mecklenburgs, der preußischen Landeskirche, vor allem Hannovers harter und – der Hauptsache nach gewiß – unbilliger Verkennung begegnete. Man fand dort den Werth, den W. und seine Freunde dem modernen christlichen Vereinsleben beilegten, unvereinbar mit den – ihrerseits sehr anfechtbaren, mindestens überspannten – „objectiven“ Begriffen von Kirche und Pfarramt und nahm Anstoß an Wichern’s offen bekannter Vorliebe für die Union oder mindestens das friedliche praktische Zusammenarbeiten der beiden evangelischen Confessionen. Da in Hannover vom Pastor D. Petri herausgegebene Zeitblatt für die Angelegenheiten der lutherischen Kirche ging in diesen Bedenken so weit zu erklären: „Diese innere Mission unter dem Scheine der Freundschaft für die Kirche ist doch der Ruin derselben; sie ist ein Schlinggewächs, welches Stamm und Aeste des Kirchenbaumes zu überziehen und ihm alle Lebenskraft auszusaugen droht; es steht so, daß eine von beiden, die Kirche oder die innere Mission, das Feld räumen muß“. Schon den Namen: „Innere Mission“ fand D. Petri unerträglich; er faßte ihn so auf, als wollte ein beliebiger Verein seine mit menschlicher Vollmacht ausgerüsteten Sendlinge neben die Boten stellen, die der Herr der Kirche selbst gesandt und bevollmächtigt hat. Freilich beruhte das nur auf willkürlicher Folgerung aus einzelnen, vielleicht reichlich enthusiastischen Aussprüchen Wichern’s und seiner Freunde, denen im Zusammenhange das Gegengewicht nicht fehlte. Auch konnte dieser confessionelle Gegensatz im eigenen Lager sich nicht auf die Länge behaupten. In jenen Jahren hochgehender Reaction versperrte er der inneren Mission ganze Gebiete des protestantischen Deutschlands und bereitete ihrem sieggewohnten Verfechter manche bittere Stunde. Doch schritt das Werk im ganzen rüstig vorwärts. Im Jahre 1851 durfte W. seine Sache in England vor der Evangelical Alliance vertreten und dort ebenso werthvolle Bekanntschaften anknüpfen wie interessante Studien machen. Am 17. Juli 1851 legte Friedrich Wilhelm IV., der persönlich an Wichern’s Erfolgen regsten Antheil nahm, den Staatspensionären des Rauhen Hauses die Anstellungsberechtigung für Gefängnißwärterstellen bei. Kurz zuvor hatte die theologische Facultät der Universität Halle den Candidaten W. ehrenhalber zum Doctor der Theologie ernannt. Das Jahr 1853 nannte W. selbst später das Königsjahr des Rauhen Hauses, da es außer andern Fürsten und Fürstinnen die Könige von Preußen und Baiern mit ihren Gemahlinnen zu dessen Besuche herbeiführte. [779] Im Auftrage der preußischen Regierung führte 1852 und 53 W. drei große Reisen zur Besichtigung der Gefängnisse aus, die zu mannichfachen Anträgen und bessernden Eingriffen anregten, mit denen sein besonders wirksamer Vortrag „über die Behandlung der Verbrecher in den Gefängnissen und der entlassenen Sträflinge“ auf dem fünften Kirchentage zu Bremen (1852) nahe zusammenhängt. Vor allem das Verhältniß Wichern’s zum preußischen Gefängnißwesen, enger geschürzt noch durch seinen maßgebenden Antheil an der Reorganisation der großen Strafanstalt zu Moabit (1854–56) nach dem Grundsatze der Zellenhaft und die erweiterte Verwendung seiner Rauhhäusler-Brüder im preußischen Wärterdienste, führte endlich Januar 1857 zur förmlichen Berufung in den preußischen Staatsdienst. W. wurde als Oberconsistorialrath (Rath III. Cl.) im Oberkirchenrathe und gleichzeitig als vortragender Rath für Gefängnißwesen im Ministerium des Innern angestellt, ohne auf seinen Platz am Rauhen Hause verzichten zu müssen. Er verlebte fortan die Winter zumeist in Berlin, die Sommer in Horn. Die eigentliche Leitung im Rauhen Hause ging an den Inspector Rhiem über, während der zweite der nächstverbundenen Gehülfen, Wichern’s späterer Biograph Friedrich Oldenberg, dem Meister nach Berlin folgte und ihm da als Inspector des neubegründeten Kinder- und Brüderhauses „Johannesstift“ wie als Geistlicher der Strafanstalt zu Moabit zur Seite stand. Verhängnisvoll für Wichern’s Wirken im preußischen Staatsdienste war die bald nach seinem Uebertritt ausbrechende Krankheit seines königlichen Gönners, obwol auch der Prinzregent und spätere König Wilhelm ihm Achtung und Wohlwollen bewahrte. Heftig waren die Angriffe in Presse und Landtag, deren er sich wiederholt zu erwehren hatte. Sie gipfelten im J. 1861 in den Kammerdebatten wie in den Flugschriften des Professors v. Holtzendorff: „Gesetz oder Verwaltungsmaxime? Rechtliche Bedenken gegen die preußische Denkschrift, betreffend die Einzelhaft“ und: „Die Brüderschaft des Rauhen Hauses, ein protestantischer Orden im Staatsdienst“. Doch fand W. in diesen Kämpfen ermuthigenden Beistand vielfach auch bei solchen, die der Regierung gegenüber, die ihn berufen, in Opposition und in kirchlicher Hinsicht ihm selbst ferner standen. Zweifellos hat sein Einfluß im preußischen Gefängnißwesen gegenüber der bureaukratischen Schablone anregend und belebend gewirkt. Als einer der ersten drang er auf sorgfältige berufliche Vorbildung des Wärterpersonales; ein Verdienst, das kaum geschmälert wird, wenn man zugeben muß, daß der Geist seiner Brüderschaft von Einseitigkeit und Selbstzufriedenheit nicht immer frei war. Auch auf allen anderen Gebieten der inneren Mission durfte W. sich schöner Erfolge erfreuen. Seit 1858 leitete er als Vorsitzer die Congresse für innere Mission, deren bei seinen Lebzeiten 21 stattfanden. Besonders hervorgehoben zu werden verdient die Einrichtung der Felddiakonie zu Liebesdiensten aller Art bei den mobilen Truppen der Feldzüge von 1864, 66 und 70/71. Im französischen Feldzuge trugen zwei seiner Söhne Heinrich und Louis die Waffen, von denen dieser am 3. Januar 1871 an einer Wunde starb, die er vor Meung empfangen. Inzwischen hatten die privaten Lebensverhältnisse in Berlin für W. und sein Haus sich glücklich gestaltet. In einem Mittwochskränzchen, um nur dies zu erwähnen, traf W. sich mit Bethmann-Hollweg, Twesten, Dorner, Bruns, Hansen, Lepsius, Müllenhoff, Dove, Trendelenburg u. A. – eine erlesene Tafelrunde! – zu geistigem Austausch und geselliger Erfrischung. Dazwischen jedoch kreuzten seinen Weg die ersten Vorboten des Verfalles seiner Kräfte, der seit dem ersten Schlaganfalle am 19. April 1866 allmählich aber unaufhaltsam sich vollzog, während gleichzeitig die alten Hamburger Freunde einer nach dem anderen dahinstarben. Im J. 1873 entschloß W. sich, aus dem preußischen Staatsdienste zu scheiden und die Leitung des Rauhen Hauses, das bei bester äußerer Verwaltung ihm nicht ganz im [780] alten freudig-freien Geiste fortzuleben schien, unter Beihülfe seines ihm zugeordneten theologischen Sohnes Johannes wieder persönlich zu übernehmen, nachdem der Inspector Rhiem auf eigenen Antrag ausgeschieden war. Allein der Rücktritt kam zu spät, um dem ehrwürdigen Greise noch eine ihn selbst befriedigende Wirksamkeit zu gestatten. Noch ehe der Abschied aus dem Berliner Amte förmlich vollzogen war (9. Novbr. 1874), brach er in erneutem Schlaganfalle am 5. April 1874 zusammen. Die noch folgenden sieben Jahre waren bei zunehmender Lähmung der Gliedmaßen und der geistigen Kräfte wie beim Wechsel gedrückter und gereizter Stimmungen für ihn selbst und für die Seinen schwere Zeit. Er starb vierzehn Tage vor Vollendung seines 73. Lebensjahres. – W. war in seinen jungen Jahren, und selbst noch im früh erblichenen dichten Haare eine imponirende Gestalt und ein hervorragender Redner. Frühe Concentrirung alles Interesses auf ein zwar nicht enges, aber doch klar umgrenztes Gebiet der Thätigkeit, verbunden mit unbeugsamer Willenskraft erklären neben der Güte der von ihm vertretenen Sache das Geheimniß seiner großartigen Erfolge. Früh nahm er zum Wahlspruche Luther’s Wort: „Cedo nulli! d. i. beseits aus, was im Wege ist. Hie fähret Er da her, der niemand weicht“. Kehrseite dieser heroischen Festigkeit war wie bei dem größeren Vorbilde auch bei W. eine gelegentlich ausbrechende Ungeduld und Heftigkeit, die von der Grundfarbe seines Wesens, der warmen, hingebenden Menschenliebe, oft seltsam abstach. Er beklagte und bekämpfte diesen Temperamentsfehler in frommer Demuth redlich, ohne ihn völlig zu überwinden. Der über manchen ernsten Bedenken und leichtfertigen Vorurtheilen gegen Wichern’s „Pietismus“ von links und rechts oft verkannte hohe Werth seines Lebenswerkes ist schon in seinem Alter immer mehr und wird heute, wo die socialen Kämpfe der Gegenwart seinen prophetischen Vorausblick in das hellste Licht stellen, fast einstimmig anerkannt. Auch seine erste Schöpfung, das Rauhe Haus, gedeiht in des Stifters Sinne unter dessen Sohne bis heute ungestört weiter. Es ist volle Wahrheit, was Kaiser Wilhelm I. am 16. April 1881 den Hinterbliebenen schrieb: „Durch die Werke christlicher Liebe und Barmherzigkeit, für welche er als das unverrückbare Ziel seines unablässigen Strebens und Wirkens in wahrer Frömmigkeit seine ganze Kraft einsetzte, hat sich der Dahingeschiedene ein unvergeßliches Denkmal selbst geschaffen“.
- Sicherste Quelle für Wichern’s Lebensgeschichte bildet die Biographie: Johann Hinrich Wichern. Sein Leben und Wirken. Nach seinem schriftlichen Nachlaß und den Mittheilungen seiner Familie dargestellt von Friedrich Oldenberg. 2 Bde. Hamburg 1884 und 87. – Alles andere, was bisher über W. geschrieben ward, ist davon mehr oder weniger abhängig. Wichern’s eigene Schriften, soweit sie besonders erschienen, findet man im Verlagskatalog der Agentur des Rauhen Hauses verzeichnet. Außerdem enthalten die „Fliegenden Blätter aus dem Rauhen Hause“ und die ersten 38 Berichte über die Anstalten des Rauhen Hauses (1833–72) vieles Eigene ihres Herausgebers. Wichern’s bedeutendste, seines Wirkens und Lebens Höhepunkt bezeichnende Schrift: „Die innere Mission der deutschen evangelischen Kirche. Eine Denkschrift an die deutsche Nation“ (Hamburg 1849, 2 Auflagen im selben Jahre) hat der Centralausschuß für innere Mission 1889 neu herausgegeben. Desgleichen „Vorträge und Abhandlungen“ (zunächst Band I: Kongreßvorträge. 1891) durch J. Wichern und F. Oldenberg.
[775] *) Zu S. 309.