Versunkenes Dorf: Zwei Bewohner von Alt-Fall erinnern sich
Fall - Der Sylvensteinsee hat derzeit so wenig Wasser, dass das versunkene Dorf Alt-Fall zum Vorschein kommt. Es wurde 1959 kurzerhand verlegt. Zwei Alt-Faller, die jetzt in Neu-Fall leben, erinnern sich an die abenteuerliche Zeit.
Heinz Tretter, 65, steht am Sylvensteinsee, der gerade um gut 15 Meter abgesenkt wurde, und schimpft ein bisschen. Da in Bayern und im Tölzer Land im Besonderen die größten Grantler manchmal die allergrößten Romantiker sind, lohnt es sich, gut zuzuhören. Heinz Tretter sagt: „So a Gschiss wegen a paar Mauern, die im See auftauchen – da geh’ i doch lieber zum Flohmarkt.“
Um ihn herum wuseln Wanderer, Schaulustige mit Gummistiefeln, Schaulustige ohne Gummistiefel, Hobby-Fotografen, echte Fotografen, ein Kamerateam, das eine Drohne über dem See aufsteigen lässt. Die Parkplätze oben an der Straße sind längst voll. Alle wollen das versunkene Dorf Alt-Fall sehen, das vor fast 60 Jahren in den Fluten verschwand und gerade wieder auftaucht, weil der Stausee abgelassen wurde. Es gibt, so scheint es, momentan keine größere Attraktion in Oberbayern als das Dorf, das sie abgebaut, zum Teil gesprengt – und umgesiedelt haben.
Ludwig Ganghofer setzte dem Dorf bereits ein Denkmal mit dem "Jäger von Fall"
Aber Heinz Tretter, der als Kind in Alt-Fall lebte, der seine Heimat nach Jahren wieder sieht, will auf den Flohmarkt gehen – wer’s glaubt, wird selig. Es war natürlich ein dahergesagter Spruch, den er
rausgehauen hat, weil er gerne mal einen Spruch raushaut – und weil er nicht versteht, warum die ganzen Menschen jetzt zum Sylvensteinspeicher im hintersten Eck des Isarwinkels kommen, nur weil man ein paar Grundmauern seines Heimatdorfes wieder sieht. Jenes Dorf, dem Ludwig Ganghofer schon im Jahr 1883 mit einem Heimatroman ein Denkmal setzte. Schauen wir kurz rein in den „Jäger von Fall“, um die verschlammten Ruinen mit Leben zu füllen:
„Im Hochsommer, zur Zeit der Schulferien, sah man wohl von Tag zu Tag ein paar Touristen, selten einen Wagen. Die Stille des Ortes wurde nur unterbrochen durch das dumpfe Poltern der Holzstämme, die, von den Hebeln der Flößer getrieben, hinabrollten über die steilen Ufer der Lagerplätze und mit lautem Klatsch in das Wasser schlugen. Hier und da durchhallte ein krachender Schuss das kleine Tal, wenn der Förster oder einer der Jagdgehilfen seine Büchse probierte. (...) Im Winter liegt hier alles eingeschneit; oft reicht der Schnee bis hoch an die Fenster, zum großen Leidwesen der Jagdgehilfen, die sich dann mit schwerer Müh einen gangbaren Weg bis zur Tür des Wirtshauses ausschaufeln müssen.“
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Neben Heinz Tretter steht Josef Harbacher, 66. Auch er schüttelt immer wieder den Kopf, wenn er zum Parkplatz schaut, zu den Ruinen-Touristen. Auch er hat in Alt-Fall gelebt. Er war schon mit Tretter in der Schule, sie waren Nachbarn in Alt-Fall und haben beide von der Klamm-Brücke aus den Abbruch ihrer Ortschaft beobachtet. Sie waren dabei, es war ein Schulausflug, als das letzte Haus, das sogenannte „Beamtenhaus“, von den Mittenwalder Pionieren mit 300 Kilogramm Sprengstoff in die Luft gejagt wurde.
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Ein Rentner hat sich bis zuletzt geweigert, Alt-Fall zu verlassen
Darin lebte der Rentner Todeschini, ein Südtiroler, mit seiner Familie. Er wollte nicht gehen, er hat sich bis zuletzt geweigert, Alt-Fall zu verlassen. Dieses Dorf, das schließlich dem Forschritt weichen musste – nämlich dem Sylvensteinspeicher. Damals gab es noch keine Wutbürger, noch keine Protestkultur. Heute würden Anwohner, die von einer derartigen Umsiedlung betroffen wären, mindestens ein paar Gelbbauchunken im Gemeindegebiet auftreiben, wegen denen so ein Großprojekt ein moralisches Ding der Unmöglichkeit wäre, Stichwort Artenschutz. Damals war das anders, der Gemeinderat hat zwar seinen Unmut über die Dorfverlegung kundgetan, die Oma von Hans Tretter hat auch ein bisschen geschimpft, aber alles vergeblich. 1954 begannen die Arbeiten am Stausee, der bayerische Landtag wollte es so. Fünf Jahre lang haben 500 Arbeiter den 44 Meter hohen Damm in Tag- und Nachtschichten errichtet und die Sylvensteinbrücke gebaut. Eine Million Kubikmeter Material haben sie bewegt, der Stausee hat über 60 Millionen Mark gekostet, damals eine gigantische Summe. Er schützt seitdem vor Hochwasser, zwei Wasserkraftwerke sorgen für Energie. Gebaut wurde der Damm ursprünglich zur Niedrigwasserregulierung, damit die Isar nicht trockenfällt.
1959 setzte plötzlich Starkregen ein, der Stausee füllte sich viel schneller als erwartet, nur noch ein Gebäude stand – das „Beamtenhaus“. Die Schule, das Wirtshaus, der Kramerladen, die Schmiede, das Zollhäuschen und das Elektrizitätswerk, alles war schon abgetragen. Da, endlich, hatte auch der Rentner Todeschini ein Einsehen. Das Wasser, so erzählt es Heinz Tretter, stand schon an der Haustüre, als der Südtiroler im Frühjahr 1959 Alt-Fall verließ. Damit war das Dorf endgültig Geschichte.
Einige Bewohner zogen ganz weg, viele begannen im nur wenige hundert Meter entfernten und höher gelegenen Neu-Fall ihr neues Leben. Am Anfang waren manche Faller aus dem alten Jägerdorf enttäuscht, als sie die Häuser in Neu-Fall sahen. Es gab zwar jetzt zum ersten Mal Straßennamen, aber die blechbedeckten Neubauten gefielen nicht jedem. „Neuschachtelhausen“, so nannten die Unglücklichen die neue Heimat, in der natürlich auch wieder eine Kirche stand, aber diesmal ohne den gewohnten Zwiebelturm.
Jede Familie bekommt eine Doppelhaushälfte zur Miete
Jede Familie bekam eine Doppelhaushälfte zur Miete, einen Garten – und manchmal auch eine Garage. „Der Förster“, sagt Heinz Tretter, „hat eine Garage bekommen und der Forstmeister auch – der Holzer nicht.“ Weil der sich ein Auto sowieso nie leisten können wird, so hat man damals gedacht. Fürsorgende Vernachlässigung, wenn man so will.
Aber für Tretter und Harbacher, die beide heute noch in Fall leben, war der Umzug ein Segen, zumindest im Nachhinein. Romantik hin, Heimat her – Alt-Fall war, da tritt man dem Dorf nicht zu nahe, keine Wellness-Oase. Die Häuser hatten keine Badewanne und keine Toilette, die war draußen. Es war zugig und eng. „Die Bauten waren ein Glump“, sagt Harbacher. Heinz Tretter sagt: „Ich möcht’ gern mal wissen, was passiert wär’, wenn’s den See ned geben hätt’.“
Die Männer, die beim Umzug Buben waren, haben sich eingerichtet in der neuen Heimat – sie fühlen sich schon lange wohl in Neu-Fall, auch wenn das Wirtshaus kürzlich wieder schließen musste. Wahrscheinlich müssen sich die beiden auf ein paar Wochen Trubel einstellen – das Interesse an Alt-Fall wird in den nächsten Wochen noch größer werden. Denn es ist vielleicht das letzte Mal für viele Jahrzehnte, dass das versunkene Dorf auftaucht. Man muss sich den Sylvensteinsee wie eine Badewanne vorstellen – ein Revisionsschütz, das ist so was wie ein gigantischer Stahl-Stöpsel, verschließt den See bei Bedarf. Dieser Revisionsschütz wurde nun ausgetauscht, dazu musste der See abgelassen werden. Noch bis weit ins nächste Jahr soll der Seespiegel so niedrig bleiben.
Vielleicht ist das der richtige Moment, um ein für alle Mal mit einem Märchen aufzuräumen. Da ist die Legende, dass heute noch der Kirchturm von Alt-Fall unter dem Wasser des Sylvensteinspeichers schlummert. Im Internet gibt es Taucher, die von dem Kirchturm berichten. „Den Taucher“, sagt Tretter, „hab’ ich angemailt, den Hornochsen.“ Denn es ist gelogen. Die Kirche gibt’s nicht mehr, sie wurde abgetragen, wie alle anderen Gebäude, wie der Pfarrhof, der andernortswieder aufgebaut wurde; Tretter glaubt, am Tegernsee.
"Die echten Faller san die edelste Rasse auf der ganzen Welt"
Eine Stunde später sitzen Harbacher und Tretter, die Schulfreunde aus Alt-Fall, beim Wastlerwirt in Lenggries, ein paar Kilometer vom Stausee entfernt. „Die echten Faller“, sagt Josef Harbacher, „san die edelste Rasse auf der ganzen Welt – denn die gibt’s nimma.“
Naja, noch gibt es sie. Zwei dieser edlen Rasse trinken gerade Weißbier und essen Würstl. Die beiden sind eine kleine Berühmtheit, jeder weiß, dass sie aus dem versunkenen Dorf kommen. Nebenan am Stammtisch, wo der Durst schon am frühen Mittag groß ist, sagt einer: „Riacht ganz schee schlammig. Seid’s wieder dahoam gwesen?“
Heinz Tretter sagt: „Mir waren grad nomoi schnell im Keller, zum Glück. Da hat damois oaner vergessen, d’Lampn auszumschalten.“ Alle lachen. Guter Konter. Tretter und Harbacher schauen sich an, sie grinsen. Ein bisschen stolz, aus Alt-Fall zu kommen, auf die Aufmerksamkeit, die sie kriegen, sind sie schon. Aber sie würden es nie sagen. Denn es reicht, dass alle wissen, dass sie fast die Letzten sind, die mal auf dem Grund des Sylvensteinsees gelebt haben.