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Zeitschrift-Artikel: Bereit und aufrichtig (Zum 500. Geburtstag von Johannes Calvin)

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Titel: Bereit und aufrichtig (Zum 500. Geburtstag von Johannes Calvin)
Typ: Artikel
Autor: Gerrit Alberts
Autor (Anmerkung):

online gelesen: 4061

Titel

Bereit und aufrichtig (Zum 500. Geburtstag von Johannes Calvin)

Vortext

Text

Ein schüchterner Mann mit großer Wirkung


Sein Siegel zeigt eine Hand, die ein Herz hält, links und rechts die Buchstaben J und C. Die Siegel seiner Zeit sollten das Wesen des Besitzers beschreiben. So stehen J und C nicht in erster Linie für den Namen Johannes Calvin, sondern vor allem für Jesus Christus. Zu seinem Siegel gehörten die Worte „Prompte et sincere“ – bereitwillig und aufrichtig (ungeschminkt). Sein Lebensmotto ging zurück auf einen Brief, den er 1540 an seinen Freund Farel schrieb. Farel drängte ihn, in die Stadt Genf zurückzukehren, aus der die Beiden 1538 verbannt worden waren. In Calvin sträubte sich alles gegen diesen Plan: „Lieber sterbe ich hundertmal auf andere Weise, als an diesem Kreuz (in Genf zu sein), an dem ich tausendmal täglich umkomme.“1 Nach langen inneren Kämpfen schrieb er schließlich an Farel: „Weil ich weiß, dass ich nicht mein eigener Herr bin, bringe ich mein Herz dem Herrn als ein wahrhaftiges Opfer dar.“ Sein Leben ist in mancher Hinsicht anders verlaufen, als er es sich vorgestellt hat. Von seinem Wesen her eher ein schüchterner Mensch, hätte er gerne ein zurückgezogenes Leben als Gelehrter geführt. Stattdessen geriet er zunehmend in das Zentrum des Zeitgeschehens der Reformation. Er gehörte nicht zur ersten Generation der Reformatoren, den Pionieren. Er war 25 Jahre jünger als Zwingli, 26 Jahre jünger als Luther und 27 Jahre jünger als Oekolampad, der Reformator Basels. Seine Aufgabe war mehr die Festigung und Verteidigung der Reformation, die prägnante und tiefgehende Darstellung der reformatorischen Lehren. Calvin war ein hochbegabter Intellektueller. Von ihm wurde gesagt, er habe einmal Gelesenes unauslöschlich in Erinnerung behalten: Er war mit einem ‚fotografischen Gedächtnis begabt‘2. In seinen theologischen Vorlesungen, die er in Genf neben seinen zahlreichen anderen Aufgaben dreimal wöchentlich hielt, kam er ohne schriftliche Vorgabe aus. Obwohl er sich sorgfältig vorbereitete, fand er jedoch nicht die Zeit und hatte es auch nicht nötig, ein Manuskript zu erstellen.3 Die kirchengeschichtlichen Auswirkungen seines Lebens sind gewaltig. Männer wie George Whitefield und Charles Haddon Spurgeon akzeptierten es, als Calvinisten bezeichnet zu werden. Spurgeon schrieb in seiner Autobiografie ein Plädoyer für den Calvinismus: „Die alte Wahrheit, die Calvin gepredigt hat, … sie ist auch die Wahrheit, die ich heute predigen muss, sonst würde ich gegenüber meinem Gewissen und gegenüber Gott schuldig.“4 John Knox, der Reformator Schottlands, war ein Schüler Calvins in Genf. Jonathan Edwards, John Owen, John Bunyan, zeitgenössische Autoren wie John Piper, John MacArthur, Randy Alcorn und Marc Dever wurden lehrmäßig von ihm geprägt. Die Puritaner, die reformatorischen Kirchen in Schottland, den Niederlanden, der Schweiz, in Amerika und in vielen anderen Teilen der Welt berufen sich auf ihn und seine Lehren. Der ehemalige Rektor des Princeton Theological Seminary, Benjamin Warfield, sagte von Calvin: „Niemand hatte jemals einen tiefer gehenden Gottesbegriff als er.“5

Kindheit und Jugend

Johannes Calvin (eigentlich Jean Cauvin) wurde am 10. Juli 1509 in Noyon in der Picardie im Norden Frankreichs geboren. Die Menschen dieser Provinz werden wegen der ihnen nachgesagten Starrköpfigkeit oder – positiv gesagt – ihrer Standhaftigkeit „die Friesen von Frankreich“ genannt.6 Sein Vater war ein bischöflicher Sekretär und Finanzverwalter. Später überwarf er sich wegen geschäftlicher Dinge mit dem Bischof, wurde mit dem „kleinen Kirchenbann“ belegt und starb als Exkommunizierter. Johannes wurde mit den adligen Neffen des Bischofs erzogen. Er erhielt die Einkünfte eines Kirchenbezirks, später auch eines zweiten, mit der Maßgabe, sich zum Priester ausbilden zu lassen. Mit 14 Jahren ging er zum Studium nach Paris und studierte unter anderem am Collège Montaigu, der späteren Sorbonne, an der auch Erasmus von Rotterdam studiert hatte und ab 1528 ebenfalls Ignatius von Loyola, der Gründer des Jesuitenordens und Gegenreformator, eingeschrieben war. Erasmus schrieb über das Studium an dieser ehrwürdigen Bildungsstätte: „Ich weilte an einem Kolleg in Paris, wo man so viel Theologie verschlang, dass die Mauern davon vollgesogen waren; aber ich habe nichts weiter davon behalten als eine kalte Gemütsverfassung und eine Menge Ungeziefer. Die Betten waren so hart, das Essen so schlecht, die Nachtarbeit und das Studieren so beschwerlich, dass viele junge Leute gleich im ersten Jahr ihres Kolleg-Aufenthaltes krummbeinig, blind oder aussätzig wurden, wenn sie nicht starben. … Die Strafen bestanden aus Peitschenhieben, die mit einer Härte verabreicht wurden, wie nur ein Henker sie geben konnte. Der Vorgesetzte wollte aus uns Mönche machen; und um uns das Fasten zu lehren, gab es niemals Fleisch. Oh, wie viele verdorbene Eier habe ich dort gegessen.“7 In Paris kam Calvin mit den Lehren der Reformation in Berührung, unter anderem durch seinen Lehrer Jacques Lefèvre d’Étaples, der sich bereits 1509 unabhängig von Luther von den römisch-katholischen Lehren abwandte, die Bibel als ausschließliche Quelle der göttlichen Offenbarung anerkannte und das Neue Testament ins Französische übersetzte. Zu dem geheimen Zirkel um Lefèvre zählten Erasmus und der spätere Freund Calvins, Wilhelm Farel, sowie sein Cousin, Robert Olivetan. Calvin stand der neuen Lehre zunächst eher ablehnend gegenüber. „Das Neue kann mich nur entrüsten. Sollten wir alle bis dahin im Irrtum erzogen worden sein und gelebt haben?“8 Ihn störte auch die unversöhnliche Haltung Luthers im Abendmahlstreit 1529. Mit Unterbrechungen blieb Calvin von 1523 bis 1534 in Paris. Ab 1529 absolvierte er auf Wunsch seines Vater ein Studium der Rechtswissenschaften, das ihn nach Orleans und Bourges führte. In Orleans zeichnete er sich durch seine Kenntnisse bald so sehr aus, dass der 19-jährige den Professor vertreten musste, wenn dieser verhindert war, seine Vorlesungen zu halten. 1531 kehrte er nach Paris zurück.

Bekehrung und Flucht

Wann die Bekehrung Calvins stattfand, ist nicht genau zu terminieren. Es muss um das Jahr 1533 gewesen sein. Theodor Beza, sein Nachfolger in Genf und erster Biograf, schreibt darüber: „Da Calvin durch einen seiner Verwandten namens Robert Olivetan die wahre Religion kennen gelernt und sorgfältig die Heiligen Schriften gelesen hatte, begann er, Grauen zu empfinden vor den Lehren der römischen Kirche und fasste den Entschluss, aus ihr auszuscheiden.“9 Von beträchtlichem Einfluss war wahrscheinlich auch der Lutheraner Melchior Wolmar, der in Bourges Griechisch lehrte. Unter seinem Einfluss wandte sich Calvin nach dem Tod seines Vaters sehr intensiv dem Studium der griechischen, hebräischen und syrischen Sprache zu. Calvin selber beschrieb seine Sinnesänderung in der Vorrede zu seiner Auslegung der Psalmen: „Je mehr ich mich in der Nähe betrachtete, desto schärfere Stacheln verwundeten mein Gewissen, so dass mir kein anderer Trost blieb, als mich selbst zu täuschen, indem ich mich vergaß. Aber Gott erbarmte sich meiner. Obwohl ich noch so hartnäckig dem päpstlichen Aberglauben anhing und es unmöglich schien, mich aus dem tiefen Kot zu ziehen, überwand dennoch Gott mein Herz durch eine plötzliche Bekehrung.“ An Allerheiligen 1533 hielt der Rektor der Sorbonne, Nicolas Cop, eine Rede zur Eröffnung des Studienjahres. Darin fand sich deutlich reformatorisches Gedankengut. Die Rede soll weitgehend von Calvin verfasst worden sein. König Franz I. beschloss, die „verfluchte lutherische Sekte“ zu verfolgen. Jedenfalls flohen Cop und Calvin überstürzt aus Paris, aus gutem Grund, denn wohl nirgends in Europa sind so viele Protestanten getötet worden wie in Paris.10 Calvin fand Zuflucht bei seinem Studienfreund Louis du Tillet in Angoulême in Südfrankreich. Du Tillet, der ihn jahrelang auf den nächsten Stationen seiner Flucht bis nach Genf begleitete, kehrte übrigens später wieder zur katholischen Kirche zurück. In Angoulême lebte er unter einem Pseudonym und begann, die Institutio Christianae Religionis (Unterricht in der christlichen Religion) zu schreiben. Die erste Ausgabe der Institutio erschien 1536 in Basel. Sie hatte einen doppelten Zweck: Ihr war ein Brief von Calvin an König Franz I. vorangestellt, in dem er zum Ausdruck brachte, dass er den evangelischen Glauben dem König gegenüber begründen und verteidigen wollte. Es ging ihm darum, seine verfolgten und mit dem Tod bedrohten Glaubensgeschwister in Frankreich in Schutz zu nehmen. Die Institutio wurde also unter dem Eindruck brennender Scheiterhaufen geschrieben. Zum anderen sollte das Werk jedem Interessierten eine „beinahe vollständige Zusammenfassung des Glaubens geben und alles beschreiben, was man von der Heilslehre unbedingt kennen müsse“. Ferner hieß es auf der Titelseite, das Buch sei für alle lesenswert, die sich der Frömmigkeit widmen.11 Bis 1559 erschienen fünf jeweils erweiterte Ausgaben der Institutio, so dass die ursprünglich 6 Kapitel auf 80 anwuchsen. Die gesammelten Werke Calvins bestehen aus 54 Bänden, die Institutio ist jedoch das mit Abstand bekannteste und einflussreichste Buch Calvins.12 Miller schrieb in seiner Kirchengeschichte: „Das gelehrte Werk Melanchthons von 1521, die ‚loci communes’, … Zwinglis ‚Commentarius’ von 1525 …, und auch Luthers ‚Katechismus’ von 1529 verfolgen alle den gleichen Zweck wie Calvins Werk, erschöpfen aber den Gegenstand nicht so sehr wie dieses und stehen ihm auch, was Tiefe und Klarheit anbetrifft, nach.“13 Der Ratsherr von Paris und spätere Märtyrer der Bartholomäusnacht, P. de la Pace, schrieb an Calvin: „Es gibt niemanden auf dieser Welt, dem ich mehr zu verdanken habe als dir, und ich sehe nicht, wie ich dich in diesem sterblichen Leben für die Unsterblichkeit belohnen kann, die ich aus diesem Buch geschöpft habe.“14 Im April 1534 ging Calvin nach Nérac, um sich Rat von dem 80-jährigen Lefèvre zu holen. Dieser hatte Unterschlupf bei Marguerite d’Angoulême, der Schwester von König Franz I., gefunden. Sie, die spätere Königin von Navarra, war eine Schutzherrin und Wohltäterin der Hugenotten. Calvin unterhielt in späteren Jahren einen regen Briefkontakt mit ihr. Nach einem kurzen Zwischenaufenthalt in Paris, wo die Verfolgungen immer heftiger wurden, floh Calvin mit du Tillet über Straßburg nach Basel. Als 1536 in Frankreich eine begrenzte Amnestie angekündigt wurde, kehrte er kurz in seine Heimat zurück regelte einige Angelegenheiten, um danach Frankreich für immer zu verlassen. Geplant war, nach Straßburg, das damals zum Deutschen Reich gehörte, zu gehen, um dort in aller Ruhe weiter zu studieren. Doch zwischen Franz I. und Karl V. war Krieg ausgebrochen. Der Weg war durch Truppenverschiebungen versperrt und er musste einen Umweg über Genf nehmen. Er hatte vor, dort eine Nacht zu bleiben …

Erster Aufenthalt in Genf (1536-1538)

Genf war 1536 eine Stadt von ungefähr 10.000 Einwohnern. In diesem Jahr hatten sich die Bürger für die Reformation entschieden, allerdings mehr aus politischen Gründen als aus religiöser Überzeugung. Wilhelm Farel, der Pastor der Stadt, besuchte Calvin, der bereits durch die Institutio bekannt geworden war, in seiner Herberge und bat ihn, in Genf zu bleiben, um das Werk der Reformation in den Herzen der Bürger zu verankern. Calvin aber wandte ein, dass er Ruhe brauche und seine Studien in Straßburg vollenden wolle. Als alles Bitten nichts half, legte Farel seine Hand auf den Kopf des jungen Gelehrten und rief: „Gott soll deine Ruhe verfluchen und deine Studien, wenn du sie mehr suchst als Christum und sein Werk.“ Calvin schrieb später in seinem Kommentar zu den Psalmen: „Der Meister Wilhelm Farel hat mich in Genf gehalten, nicht so sehr durch Ratschläge und Ansporn als vielmehr durch eine furchtbare Beschwörung, als ob Gott von oben seine Hand zu mir ausgestreckt hatte, um mich zu halten.“ In Genf wirkte Calvin zunächst als Lehrer der Heiligen Schrift und bald auch als Pastor. Zusammen mit Farel und einem weiteren Pastor der Stadt stellte er eine Kirchenordnung und ein Glaubensbekenntnis auf, dem jeder Bürger der Stadt zustimmen sollte. Wer dies nicht konnte oder wollte, sollte die Stadt verlassen. Dem Rat wurde empfohlen, gut beleumundete Gemeindeglieder als „Deputierte“ in den verschiedenen Stadtvierteln einzustellen, um den Lebenswandel der Gemeindeglieder zu beaufsichtigen.15 Verstöße gegen die Gebote Gottes und gegen die Kirchenordnung sollten nicht nur durch Kirchenzucht, sondern gegebenenfalls auch durch staatliche Gewalt geahndet werden. Der Rat der Stadt nahm die Vorschläge ohne große Änderungen an. Als jedoch die Pastoren 1538 dazu übergehen wollten, diejenigen, die dem Glaubensbekenntnis nicht zugestimmt hatten, vom Abendmahl auszuschließen, verbot der Rat der Stadt dies. Als es auch noch über kirchliche Gebräuche, die von der Stadt Bern übernommen werden sollten, zu Diskrepanzen kam, verbannte der Rat am 23. April 1538 Calvin und Farel aus der Stadt.

Aufenthalt in Straßburg (1538-1541)

Bereits nach ein paar Wochen Aufenthalt in Basel wurde Farel zum Pfarrer in Neuchâtel berufen. Calvin wollte sich wieder einmal seinen Studien widmen, wurde aber von Bucer, dem Reformator Straßburgs, gedrängt, sich als Pastor der dort gerade gegründeten Flüchtlings-Gemeinde, die aus 400 – 500 Hugenotten bestand, anzunehmen. Außerdem wurde er Dozent für die Auslegung des Neuen Testamentes am dortigen Gymnasium. Während seines Aufenthaltes in Straßburg erschienen eine Reihe wichtiger Schriften, von denen die zweite Fassung der Institutio und der Kommentar zum Römerbrief besonders zu nennen sind. Durch die Teilnahme an verschiedenen Religionsgesprächen entstanden in dieser Zeit nähere Verbindungen zu deutschen Gemeinden und Reformatoren. Zu Melanchthon entwickelte sich eine freundschaftliche und von gegenseitiger Hochachtung geprägte Beziehung trotz mancher lehrmäßiger Unterschiede. Luther hat er persönlich nicht kennengelernt. Über dessen Heftigkeit und Hartnäckigkeit sprach er sich tadelnd aus. Trotzdem erklärte er: „Wenn Luther mich auch einen Teufel schelten sollte, ich würde ihn doch immer als einen großen Diener Gottes anerkennen.“16 Vielleicht war die wichtigste Führung in diesen drei Jahren, dass er im Alter von 31 Jahren eine Frau fand. Calvin hatte seinem Freund und Heiratsvermittler Farel gesagt, von welcher Art seine Frau sein sollte: „Die einzige Schönheit, die mich reizen könnte, ist die, dass sie züchtig, nicht zu hübsch und zu anspruchsvoll ist. Sie muss sparsam und geduldig sein und sich gern um meine Gesundheit kümmern wollen.“17 Am 6. August 1540 heiratete er die Witwe Idelette de Bure aus Geldern, die vorher den sogenannten Wiedertäufern angehört hatte. Sie brachte zwei Kinder mit in die Ehe. 1542 wurde in Genf der erste Sohn des Ehepaares, Jacques, geboren. Er starb schon zwei Wochen später. Calvin schrieb: „Der Herr hat uns mit dem Tod unseres kleinen Sohnes eine ernste und bittere Wunde zugefügt. Aber er ist selbst ein Vater und weiß sehr wohl, was gut ist für seine Kinder.“18 Sie bekamen noch zwei weitere Kinder, die ebenfalls kurz nach der Geburt starben. Idelette erholte sich von den Geburten nie wieder ganz. 1549, nach fast neun Jahren Ehe, starb sie. Calvin schüttete seinem Freund Viret, Pastor in Lausanne, sein Herz aus: „Du weißt sehr wohl, wie zart, oder besser weich, mein Herz ist. Wäre mir nicht eine starke Selbstkontrolle verliehen, hätte ich es nicht so lange ausgehalten. Ich bin der besten Begleitung meines Lebens beraubt, eines Menschen, der, wäre es so bestimmt, mit mir willig nicht nur meine Armut, sondern auch meinen Tod geteilt hätte. Solange sie lebte, war sie die treue Helferin in meinem Dienst. Nicht die leichteste Behinderung habe ich durch sie erfahren. Während ihrer ganzen Krankheit ist sie mir nie lästig gefallen, sondern sorgte sich um ihre Kinder mehr als um sich selbst.“19 Calvin fühlte sich sehr für das geistliche und leibliche Wohlergehen seiner Stiefkinder verantwortlich. Als 1557 seine Stieftochter Judith des Ehebruchs für schuldig befunden wurde, schämte er sich tief. In Genf entwickelten sich die Verhältnisse so, dass man wiederholt und dringlich um die Rückkehr Calvins bat. Nach längerem Zögern willigte Calvin schließlich ein und kehrte am 13. September 1541 nach Genf zurück.

Wieder in Genf (1541-1564)

In Genf wurde Calvin ehrenvoll empfangen und zunächst mit einem sehr hohen Gehalt ausgestattet: 500 Gulden, 12 Maß Getreide, 2 Maß Wein und freie Wohnung – ein Ratsherr bekam nur 200 Gulden Gehalt. (Calvin ist jedoch in materieller Armut, nahezu völlig ohne Besitz, gestorben.) Sein Ziel war es, in der Stadt mit Hilfe des kirchlichen Lebens, der Predigt von Gottes Wort, aber auch der staatlichen Gewalt eine Art Theokratie zu errichten. Der Staat hatte sich seiner Meinung nach nicht aus den Dingen der Religion und der inneren Überzeugung herauszuhalten, sondern auch die Frömmigkeit der Bürger zu fördern. In der Institutio betont er die Pflicht der Regierung, auch für die rechte Gottesverehrung zu sorgen.20 Das bedeutete beispielsweise, dass der Staat auch gegen Irrlehrer vorgehen sollte. Die Kirche, welche selbstständig neben dem Staat stand, hatte durch ihre Pastoren Wort und Sakramente zu verwalten, durch ihre Diakone Arme und Kranke zu pflegen, durch ihre Lehrer christliche Unterweisung zu erteilen und durch ihre Ältesten Zurechtbringung und Kirchenzucht gegen die Übertreter der göttlichen Gebote und kirchlichen Ordnungen zu üben. Bereits 1541 wurde eine tief in das Leben der Bürger eingreifende Kirchenordnung, eine Staatsverfassung und ein neues bürgerliches Gesetzbuch eingeführt. So waren nicht nur Verbrechen im heutigen Verständnis unter Strafe gestellt, sondern auch Kleiderluxus, Glücksspiele und Tanz waren verboten, der Kirchenbesuch bei Strafe geboten. Aber so leicht, wie die strenge Sittenordnung eingeführt war, konnte sie nicht durchgesetzt und aufrecht erhalten werden. Über 10 Jahre lang (1543-1555) kämpfte Calvin mit der Opposition im Rat und in der Bevölkerung, die sich die Einschränkung ihrer Freiheit nicht gefallen lassen wollte. Als 1555 die Anhänger Calvins die Stadtratswahlen gewannen und alle vier Bürgermeister stellten, kam es zu einem offenen Aufruhr der gegnerischen Partei, die sich Enfants de Genève (Kinder Genfs) nannte. Zwölf Aufrührer wurden zum Tode verurteilt, drei hingerichtet, die anderen waren entkommen, einschließlich des Anführers Perrin. Danach verlief die Entwicklung in ruhigerem Fahrwasser.

Die letzten Tage Calvins (1564)

Nachdem 1555 die Opposition in Genf weitgehend zum Erliegen gekommen war, befasste sich Calvin mehr und mehr auch mit überregionalen Angelegenheiten. Von 1556 an ließ sein Gesundheitszustand stark nach. Kopfschmerzen, Magenleiden, Blutspeien, Gicht, Nierensteine waren nur einige seiner Leiden. Trotz ständiger Schmerzen fuhr er rastlos mit seinem Dienst fort. Am 6. Februar 1564 musste er eine Predigt wegen Blutspeiens abbrechen. Am 2. April ließ er sich in die Kirche tragen und empfing von seinem Nachfolger Beza das Abendmahl. Seinem Freund Farel riet er von der Mühe eines letzten Besuches ab und schrieb: „Ich will nicht, dass Du Dich meinetwegen anstrengst. Ich atme nur noch schwer und erwarte von Stunde zu Stunde, dass der Atem mir ausgeht. Aber es ist genug, dass ich in Christus lebe und sterbe, der für die Seinen im Leben und im Tod nur Gewinn ist.“21 Dennoch kam der 75-jährige Greis an das Sterbebett seines Freundes, den er als jungen Mann für das Werk Gottes in Genf gewonnen hatte. In seinem Testament legte Calvin fest, dass seine sterblichen Überreste in schlichter Form und ohne Grabstein beigesetzt werden sollten, denn er hielt sich für zu unwürdig und keiner Ehre bedürftig: „Ich hatte so viele Sünden und Schwachheiten, dass ich wohl verdient hatte, hunderttausend Mal von Gott verworfen zu werden.“ 22 Am 27. Mai 1564 starb er mit den Worten: „Ich halte dafür, dass die Leiden der Jetztzeit nicht wert sind, verglichen zu werden mit der Herrlichkeit, die an uns …“

„Er lebte“, schrieb Beza, „54 Jahre, 10 Monate und 17 Tage. … Er war von mittlerer Größe, von dunkler, aber blasser Gesichtsfarbe. Seine Augen waren bis zum Tode leuchtend und verrieten die Schärfe seines Verstandes. Er lebte fast ganz ohne Schlaf. Die Stärke seines Gedächtnisses war nahezu unglaublich und sein Urteil war so besonnen und klar, dass es oft göttlichen Ursprungs zu sein schien. Er war kein Freund von vielen Worten und verschmähte die kunstvolle Beredsamkeit, doch war er als Schriftsteller vortrefflich … Nachdem ich nun nach einer 16-jährigen genauen Bekanntschaft mit ihm diesen glaubwürdigen Bericht von seinem Leben und Tod gegeben habe, darf ich es sagen, dass er für unser Leben und Sterben ein ausersehenes christliches Vorbild war, das zwar ebenso leicht verleumdet werden kann, wie es schwer ist, ihn nachzuahmen.“23

Nachtext

Dem Herrn gehört das Regiment und für die Menschheit wie für die ganze Welt gibt es außerhalb seiner Ehre nichts Erstrebenswertes. Was Gottes Ruhm und Ehre mindern könnte, ist töricht, unvernünftig und frevelhaft.
Johannes Calvin,
Kommentar zum Römerbrief

Quellenangaben

1 Leben und seine
Schriften, Neukirchen-Vluyn, 2009, S. 36.
2 Poort, J. J.: Auf den Fußspuren Calvins, Konstanz, 1984, S. 16
3 De Greef, S. 123
4 Spurgeon, Ch. H.: Alles zur Ehre Gottes, Bielefeld, 1993, S. 95
5 Warfield, B.: Calvin and Augustine, Philadelphia, 1971, S. 24, zitiert in Piper,
J.: Überwältigt von Gnade – Aurelius Augustinus, Martin Luther, Johannes
Calvin – Bielefeld, 2006, S. 169
6 Poort, S. 9
7 Poort, S. 23
8 Miller, A.: Geschichte der christlichen Kirche, Bd. 2, Neustadt/Weinstraße o.
J., S. 478
9 Miller, A.: S. 478
10 Poort, S. 43
11 So die Formulierung im Titel der Institutio von 1536, zitiert in De Greef, S. 241
12 Die Institutio wurde 2008 von Matthias Freudenberg im Neukirchener Verlag
neu herausgegeben
13 Miller, A.: Bd. 2, S. 481
14 Miller, A.: Bd 2, S. 482
15 De Greef, S. 145
16 Heidrich, R.: Handbuch für den Religionsunterricht in den oberen Klassen, Bd.
1, Kirchengeschichte, Berlin, 1905, S. 346
17 Piper, S. 184
18 Piper, S. 185f
19 Piper, S. 186
20 Calvin, J.: Unterricht in der christlichen Religion, Neukirchen-Vluyn, 1988, S.
1039
21 Miller, S. 491
22 Poort, S. 110
23 Miller, s. 492