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Zeitschrift-Artikel: Lebensäußerungen einer gesunden Gemeinde (Teil 4)

Zeitschrift: 113 (zur Zeitschrift)
Titel: Lebensäußerungen einer gesunden Gemeinde (Teil 4)
Typ: Artikel
Autor: Wolfgang Bühne
Autor (Anmerkung):

online gelesen: 2512

Titel

Lebensäußerungen einer gesunden Gemeinde (Teil 4)

Vortext

Text

Vom Stellenwert und Segen christlicher Gemeinschaft

 

„Alle, welche glaubten, waren beisammen und hatten alles gemein...“ (Apg 2,44)

„Die Menge derer, die gläubig geworden, war ein Herz und eine Seele; und auch nicht einer von ihnen sagte, dass etwas von seiner Habe sein eigen wäre, sondern es war ihnen alles gemein.“ (Apg 4,32)

Herz und Herz vereint zusammen, sucht in Gottes Herzen Ruh ...“, - so lautet der Anfang des bekannten Liedes, das Nikolaus Graf von Zinzendorf, der Gründer und geistliche Vater der
„Herrnhuter Gemeine“, gedichtet hat. Von ihm stammt auch der freimütige Satz: „Ich statuiere
kein Christentum ohne Gemeinschaft
!“

Gemeinschaft – das war auch ein weiteres wichtiges Kennzeichen der ersten Christen, die in Jerusalem ein gemeinsames Leben praktizierten, das dieser Gemeinde nicht nur eine innere Vitalität gab, sondern auch Glaubwürdigkeit und Attraktivität für ihre Umgebung bedeutete.
Auch darin ist sie ein Vorbild für uns.

Die Liebe zu den Glaubensgeschwistern ist einer der Beweise dafür, dass wir „aus dem Tod in das
Leben hinübergegangen sind
“ (1Joh 3,14). Und diese „Bruderliebe“ sucht einfach die Gemeinschaft mit den Geschwistern, so wie es auch von Saulus berichtet wird: Als er kurz nach seiner Bekehrung nach Jerusalem kam, „versuchte er sich den Jüngern anzuschließen“ (Apg 9,26).

Sicher hatte Saulus viele alte Bekannte und vielleicht auch Freunde unter den Pharisäern und Schriftgelehrten der damaligen geistlichen Elite Jerusalems. Aber jetzt gehörte er zur Familie
Gottes und man kann zwischen den Zeilen lesen, wie sehr es ihn drängte, seine Glaubensgeschwister aufzusuchen, sich ihnen „anzuschließen“ und Gemeinschaft mit ihnen zu haben.

Das Wort „anschließen“, das hier verwendet wird, kann man auch mit „ankleben“ oder „anhängen“ übersetzen und das macht deutlich, mit welch einer Intensität dieser junge Christ Gemeinschaft suchte und welch eine Enttäuschung und Glaubensprüfung es für ihn gewesen sein muss, dass ihm diese ersehnte Gemeinschaft zunächst einmal verwehrt wurde.


Keine „GmbH“ sondern eine „GmvH“!

Diese kurzen Mitteilungen in der Apostelgeschichte machen deutlich, dass sich die praktizierte
Gemeinschaft der ersten Christen nicht auf den Sonntag oder besondere Gemeinde Veranstaltungen beschränkte, sondern ihren Lebensalltag prägte. Wenn man damals auf einen jungen Bekehrten zeigte und sagte: „Der ist mit uns in Gemeinschaft!“ – dann meinte man damit nicht, dass man vielleicht noch seinen Vornamen kannte und ihm beim sonntäglichen Abendmahl
Brot und Wein reichte, sondern dass er in der Lebensgemeinschaft der Jünger Jesu aufgenommen war, Freude und Leid, Zeit und auch materielle wie geistliche und geistige Güter mit ihnen teilte.

Solch eine verbindliche Gemeinschaft, die nicht auf Herkunft oder Bildung, sondern auf Zugehörigkeit zu Christus gründete und in der echte Bruderliebe pulsierte, war in der damaligen Welt, in der soziale und intellektuelle Unterschiede eine große Rolle spielten, eine echte Herausforderung und positive Provokation.

Und genau das machte die Glaubwürdigkeit und Attraktivität der ersten Gemeinde aus: Hier lebten Arme und Reiche, schlichte Handwerker und gebildete Akademiker nicht notgedrungen und
zähneknirschend wie in einem Gefängnis, sondern „mit Frohlocken und Einfalt des Herzens“ (Apg 2,46) zusammen. Kein Wunder, dass diese Christen zumindest in der Anfangszeit der Apostelgeschichte hoch in der Gunst ihrer ungläubigen Mitmenschen standen: „sie ... lobten Gott und hatten Gunst bei dem ganzen Volk“ (Apg 2,47).

 


„Seht, wie sie einander lieben!“


So lautete das erstaunliche Urteil der damaligen Heiden über die Christen in ihrer Umgebung.
Diese Liebe wurde also für alle Welt sichtbar, sie bestand nicht nur aus Floskeln.
Sie lebten das, wovon Johannes schrieb:

„Kinder, lasst uns nicht lieben mit Worten, noch mit der Zunge, sondern in Tat und Wahrheit“ (1Joh 3,18).

Petrus schreibt in seinem ersten Brief, dass die Empfänger seiner Zeilen (und darin sind wir eingeschlossen)
ihre Seele gereinigt haben ... zur ungeheuchelten Bruderliebe“ (1Petr 1,22) und Paulus stellte den Kolossern das Zeugnis aus, dass sie „Liebe zu allen Heiligen“ (Kol 1,4) hatten, ihre Liebe also nicht auf solche beschränkten, die den selben Zungenschlag wie sie sprachen.

Echte Bruderliebe ist eine natürliche „Mitgift“ der Wiedergeburt, die sich vor allem durch Taten äußert und sogar dazu verpflichtet „für die Brüder das Leben darzulegen“ (1Joh 3,16). Auch darin sind wir schuldig, dem großen Vorbild unseres Herrn Jesus zu folgen.
Eigenartig, dass wir alle Joh 3,16 gut und gerne zitieren, aber 1Joh 3,16 weniger oft auswendig
gelernt und noch seltener gelebt wird.
Priska und Aquila (bezeichnender Weise wird an dieser Stelle Priska zuerst genannt!) hatten für das Leben des Paulus „ihren eigenen Hals“ (Röm 16,39) riskiert und damit einen sichtbaren Beweis ihrer Bruderliebe gegeben und überzeugend ausgedrückt, was „Gemeinschaft“ beinhaltet und welchen Wert sie hat.

Gelebte und verbindliche Gemeinschaft ist der Wille Gottes für jeden Christen und ein Indikator
für die Echtheit unseres Christseins und damit auch das Merkmal einer Gemeinde, die dem neutestamentlichen Muster entsprechen möchte.



Wo stehen wir heute?

Der Individualismus, der in den letzten Jahren unsere westliche Gesellschaft prägte, hat sich leider auch in unser Gemeindeleben eingeschlichen und wirkt sich zersetzend auf unsere Gemeinschaft aus. Egoismus und allgemeine Unverbindlichkeit sind nicht nur die auffälligen
Kennzeichen der heutigen Generation, sondern leider auch der Lebensstil vieler Christen.

Medien wie Fernsehen und Internet halten viele Christen in ihren eigenen Wänden, die Welt wird
damit buchstäblich ins Haus geholt mit allen gemeinschaftsstörenden Auswirkungen, die von
zahlreichen auch nichtchristlichen Fachleuten und Soziologen bereits schon vor Jahren beschrieben wurden und nun auch in unseren Gemeinden
spürbar und sichtbar werden.

Nach dem Motto der Engländer „My home is my castle“ riegeln wir uns ab, spontane Besuche von
Christen werden oft als lästige Störung empfunden, die Anonymität nimmt zu und die Verbindlichkeit und praktische Bruderliebe nehmen ab.

Oft nur einmal in der Woche leistet man der Gemeinde noch seinen schuldigen Pflichtbesuch ab, den Wolfgang Dyck sarkastisch den „sonntäglichen Stuhlgang“ nannte und das ist oft alles, was von Gemeindezugehörigkeit übrig bleibt.
Vom gemeinsamen Leben und miteinander Teilen ist oft nichts mehr zu sehen.

Es hat wohl in der Geschichte der Evangelikalen kaum eine Generation von Christen gegeben, in
der es so viele einsame und isolierte, oft auch depressive Menschen gegeben hat, wie wir es
gegenwärtig erleben.
In der verbindlich gelebten Gemeinschaft mit anderen Christen werden eigene Mängel und
Fehlentwicklungen schneller bewusst und man erkennt die Notwendigkeit der Korrektur und der gegenseitigen Ergänzung. Wie in einer großen Familie lernt man miteinander zu teilen,
einander zu helfen, die Nöte der Mitgeschwister zu erkennen, für sie zu beten und die eigenen
„Wehwehchen“ nicht so wichtig zu nehmen.

Warum haben wir so viele gefährdete Ehen in unseren Gemeinden, trotz einer Flut von christlichen Ehebüchern, zahlreichen Eheseminaren und Eheberatern?

Wie kommt es, dass der prozentuale Anteil Evangelikaler, die in psychiatrischen Kliniken Hilfe für
ihre Depressionen oder sonstigen seelischen Störungen suchen, so auffallend hoch ist? Sind das
nicht alarmierende Symptome unserer heutigen kranken Gemeinde-Kultur?



Ein Blick in die Kirchengeschichte

Zeiten der Erweckung waren und sind immer auch Zeiten intensiver Gemeinschaftspflege. Dafür
gibt es eine Menge Beispiele, aus denen ich hier nur zwei herausgreifen möchte:

In den Anfangsjahren der Herrnhuter Brüdergemeine im 18. Jahrhundert wurde ein Gemeinschaftsleben praktiziert, das bis heute vorbildlich ist. Hier lebten schlichte, einfache Handwerker, die teilweise nicht einmal lesen konnten mit hochgebildeten Juristen, Medizinern und sonstigen Akademikern zusammen. Verschiedenste Charaktere trafen hier aufeinander, was in den ersten Monaten für manche Reibereien und Auseinandersetzungen sorgte. Doch der Geist
Gottes schmiedete sie zusammen und es entstand eine „Gemeine“, die ihrem Namen buchstäblich entsprach: Man lebte gemeinsam, man teilte miteinander, was man an materiellem und geistigem Reichtum mitgebracht hatte.

Morgens um 4 Uhr wurden alle Bewohner Herrnhuts von einem Trupp Brüder geweckt, die nicht
nur an die Tür klopften, sondern auch mit der ermutigenden Losung des Tages – meist ein Bibelvers oder Teil einer Liedstrophe - die Bewohner des Hauses aufweckten. Dann begann ein
Arbeitstag, der meist aus 16 Stunden gemeinsamer und praktischer Arbeit bestand und an jedem
Abend traf man sich im Gemeindesaal zur Gemeinschaftspflege, um miteinander zu singen, zu beten, auf das Wort Gottes zu hören oder um Nachrichten aus der vielfachen Missionstätigkeit
der Gemeinde auszutauschen.

Und dort lag nicht nur der Ausgangspunkt der großen Erweckung, die sich von Deutschland über England nach Amerika ausbreitete, sondern von diesem Dorf in Oberschlesien aus zogen in den folgenden Jahren Missionare in alle Welt, um in Grönland, Tibet, Lateinamerika, Südafrika usw. das Evangelium zu verbreiten.

Der Drang zur Mission und der Gemeinschaftssinn dieser Gemeinde führte dazu, dass möglichst
jedes Gemeindeglied, das selbst nicht aufs Missionsfeld ging, dafür sorgte, dass ein anderer oder eine andere hinausziehen konnte. Das hatte zur Folge, dass in einer Generation Hunderte Missionare von Herrnhut ausgesandt und unterstützt wurden.

„Frohlocken ... Einfalt des Herzens ... Gott loben“ (Apg 2,46) – das waren auch die Kennzeichen der Herrnhuter - zumindest in der Anfangszeit.
Etwa 100 Jahre später führte eine Erweckung in England zur sog. „Brüderbewegung“ mit ähnlichen
Kennzeichen, aber anderen Schwerpunkten.
Wie auch in Herrnhut entstanden in diesen jungen Versammlungen eine Menge neuer Lieder und es entwickelte sich eine außergewöhnlich reiche Literaturarbeit. Aber auch Evangelisation, Mission und praktische Nächstenliebe bekamen einen neuen Schub. Männer wie Georg Müller, Thomas Barnardo, Hudson Taylor, John Nelson Darby und viele andere haben damals einen großen geistlichen Einfluss auf Christen in aller Welt gehabt.

Was weniger bekannt ist: Diese Erweckung begann damit, dass wohlhabende Christen ihre oft
schönen und großen Häuser für regelmäßige Teeabende öffneten, wo jeder herzlich eingeladen war, nach einer gemütlichen Tee-Runde, in der man sich kennen lernte, miteinander die Bibel aufzuschlagen und sich darüber auszutauschen. Auch hier spielten Standesunterschiede keine Rolle: Theologen, Juristen, Adelige wie auch Männer und Frauen aus den unteren Schichten aber mit einem großen Interesse an Gottes Wort saßen hier mit der aufgeschlagenen Bibel beieinander. Aus diesen Tee-Abenden gingen dann die mehrtägigen Bibel-Konferenzen hervor, die an vielen Orten Englands eine Menge interessierter Christen anzogen, die dann durch das gemeinsame Bibelstudium eine tiefere Erkenntnis des Wortes Gottes bekamen, was eine größere Liebe zum Herrn und zu den Mitgeschwistern zur Folge hatte. Auch hier wurden in den neu entstandenen Gemeinden – zumindest in den ersten Jahrzehnten - Kennzeichen des „Gemeinde-Frühlings“ in Jerusalem sichtbar.

Diese wenigen Beispiele bestätigen, was so schon offenbar ist: In der westlichen Welt sind die Gemeinden weithin krank. Es fehlt das, was eine Gemeinde gerade für Außenstehende enorm anziehend macht und was für die eigenen Gemeindeglieder so lebensnotwendig ist: Echte, von Gott gewirkte Liebe und daraus resultierend ein Gemeinschaftsleben, das von Wärme, liebevoller Fürsorge und Anteilnahme geprägt ist. Ein Leben wo man Freude und Leid, Hab und Gut miteinander teilt und man sich gegenseitig ein Ansporn ist, den Herrn und sein Wort besser kennen zu lernen und ihm mit Freuden zu dienen. Man lebte gemeinsam – und man teilte miteinander, was man an materiellem und geistigem Reichtum hatte.

Nachtext

Quellenangaben