: Weg mit der Religion
Zu viel Religion, zu wenig Politik: Simon Critchleys Streitschrift „Unendlich fordernd“ fordert eine neue Politik des Widerstands
VON JOHANNES THUMFART
Simon Critchleys Arbeiten kommen sicherlich zur rechten Zeit. Im Rahmen kritischer kontinentaler Diskurse ist es in der Nachahmung Giorgio Agambens, Slavoj Žižeks oder Alain Badious leider üblich geworden, sich exotischen metaphysischen Spekulationen hinzugeben. Besonders heiß debattierte Themen waren in den letzten Jahren gerade solche ideengeschichtlichen Delikatessen wie die Hierarchie der Engel, die politische Theologie des Paulus oder die Trinitätslehre.
Critchleys Buch „Unendlich fordernd“ markiert insofern eine Trendwende, als dass es ihm darum geht, von der Wiederkehr des Religiösen zur Formulierung einer praktischen zeitgenössischen Ethik zu gelangen.
Die Rückkehr der Religion zu Beginn des Jahrtausends sei die Folge von „aktivem und passivem Nihilismus“ gewesen, diagnostiziert Critchley. Der „passive Nihilist“ der westlichen Welt habe „das Kind in sich entdeckt“, sich auf das Private zurückgezogen und dort dem Kunstgenuss oder der religiösen Erfahrung gefrönt. Der „aktive“ Nihilismus habe sich dagegen in religiös legitimierten Terrorakten geäußert.
Gemeinsam sei beiden Phänomenen die Enttäuschung über die säkularen Werte des Westens, die Demokratie und die individuelle Freiheit. Wie viele andere beklagt Critchley den „Motivationsmangel in den Institutionen der liberalen Demokratie“.
Critchley, Philosophieprofessor an der New School for Social Research in New York, verleiht dieser bekannten These einen interessanten Zug, indem er sie ontologisch interpretiert. Die mangelnde Motivation zum ethischen Handeln sei weniger auf die konkrete historische Situation zurückzuführen, vielmehr handele es sich um ein genuines philosophisches Problem. „Was wir brauchen“, schreibt er, „ist eine Konzeption von Ethik, die zunächst einmal diesen Motivationsmangel anerkennt.“
Nicht einmal Kant habe erklären können, wie Erkenntnisse der reinen Vernunft zum praktisch-ethischen Handeln führten. Kant habe sich ganz auf „unsere Erfurcht vor dem moralischen Gesetz in uns“ verlassen. Der weiteren Bearbeitung dieser gerade aus heutiger Perspektive nicht ganz überzeugenden Lösung Kants hätten sich in der Vergangenheit schon John Rawls und Jürgen Habermas angenommen.
Habermas’ und Rawls’ Lösungen sind Critchley jedoch zu abstrakt, zu diskursorientiert. Der hemdsärmelige Brite konzipiert seine Lösung des ethischen Motivationsproblems stattdessen ausgehend von Alain Badious maoistischer Ontologie. Das moralische Subjekt konstituiere sich erst in einem „Ereignis“, insofern das Subjekt im Ereignis und nur dort dazu gezwungen werde, politisch und ethisch Farbe zu bekennen. In einem konkreten Ereignis, wie etwa den Protesten illegaler Migranten, bestehe ethisches Handeln darin, auf der Seite der universaleren Interessen Stellung zu beziehen. Im Ereignis werde das ethische Subjekt mit einem Anspruch des Anderen konfrontiert, der dieses prinzipiell übersteige, es prinzipiell überfordere: „Die ethische Beziehung ist keine Beziehung von Ebenbürtigen“, schreibt Critchley. „Ich bin der Forderung, die an mich gestellt wird, nicht ebenbürtig.“
Angesichts der „unendlichen Forderung“ des Anderen sei die ethische Motivationslosigkeit der Gegenwart kein bedauerlicher Ermüdungszustand. Es handele sich eher um ein Anzeichen dafür, dass man zu demm „realen“ Kern des ethischen Problems vorgedrungen sei. Für Jacques Lacan sei das Reale genau das, „was das Begriffsvermögen des Subjekts oder die Reichweite seiner Kriterien übersteigt“. Es ist ein Glücksfall für den Systematiker Critchley, dass dies genau seiner Konzeption des Anderen entspricht.
In der ethischen Überforderung unserer Tage sieht Critchley daher das Potenzial, zu einer illusionslosen interpersonalen Ethik zu gelangen, die sich am „realen“ Kern des Problems orientiert. So verteidigt Critchley etwa die ethische Enttäuschung der Gegenwart gegen tragische und heroische Ansätze. Ethisches Handeln sei nun einmal weder tragisch noch heroisch noch abstrakte Theorie, sondern „eine schmutzige, mühselige, lokale, konkrete und weitgehend wenig aufregende Arbeit“.
Hinsichtlich dieses Bekenntnisses zu einer abgeklärten säkularen Ethik überrascht es, dass Critchley in einem ebenfalls im letzten Jahr erschienenen Buch für einen „Katechismus des Bürgers“ in der Tradition der Rousseau’schen „religion civile“ eintrat. Die bloße Zurückweisung des Religiösen reicht ihm zufolge nicht aus, um „jene unselige Re-Theologisierung des Politischen“ aufzuhalten, „deren Zeugen wir alle sind“.
Es bedürfe vielmehr einer neuen Fiktion des Politischen, welche die kohäsive und motivierende Kraft der Religion ersetze, einer „obersten Fiktion“: „Solch eine Fiktion wäre eine Fiktion, von der wir wissen, dass sie eine Fiktion ist, und die wir dennoch glauben.“
Mit diesen surrealistischen Finessen schießt Critchley dann aber wohl über das Ziel hinaus. Leitnormen wie die Menschenrechte sollten doch gerade mehr sein als bloße Fiktionen. Sie sollten universell gültige Wahrheiten verkörpern, die jenseits jeder Religion – auch einer Zivilreligion – gültig sind. Von der „obersten Fiktion“ Critchleys wäre es nur ein kleiner Schritt zur noble lie im Sinne von Leo Strauss und damit zur Ideologie der Neocons, gegen die Critchley andenken möchte.
Simon Critchley: „Unendlich fordernd: Ethik der Verpflichtung, Politik des Widerstands“. Aus dem Englischen von Andrea Stumpf und Gabriele Werbeck. Diaphanes Verlag, Berlin 2008, 182 Seiten, 19,90 Euro Simon Critchley: „Der Katechismus des Bürgers. Politik, Recht und Religion in, nach, mit und gegen Rousseau“. Aus dem Englischen von Christian Strauch. Diaphanes Verlag, Berlin 2008, 80 Seiten, 8 Euro
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