: Stadt aus Schuhen
TOTALE ARCHITEKTUR Zlín, eine in den Zwanzigerjahren am Reißbrett entstandene Idealstadt in Südmähren, war Gegenstand eines Symposions, das den totalitären Charakter von kombiniertem Wohnen und Arbeiten erforschte
VON RONALD BERG
Wahrscheinlich war Zlín einmal die modernste Stadt der Welt – modern im Sinne von rational, funktional und effizient. Als Thomáš Bat’a 1894 in Zlín eine Schuhfabrik gründete, hatte das Kaff in Südmähren 3.000 Einwohner. Zum 40-jährigen Firmenjubiläum lebten dort mehr als 40.000 Menschen und das Unternehmen Bata war Global Player. Um die Person Thomáš Bat’a ranken sich naturgemäß Legenden.
Fest steht: Seine Stadt diente einem einzigen Zweck – der Produktion von Schuhen. Die Fabrik in der Mitte eines langgestreckten Tals bildet daher tatsächlich den Stadtkern. An den ansteigenden Hängen drum herum liegen Wohnstätten für Arbeiter und Angestellte. Deshalb gibt es in Zlín nur zwei Häusertypen. Da wäre zunächst das Rasterformat von 6,15 x 6,15 Metern, das sich in vielen Gebäuden der Fabrik auf ca. 20 x 80 Metern Grundfläche wiederholt und beim Headquarter von Bata auf 17 Geschosse in die Höhe gestapelt wurde. Mit nach außen hin sichtbaren Stahlbetonpfeilern und wie bei den Produktionshallen mit Backstein ausgefacht, ist der Bautypus auch andernorts – mal hoch mal niedrig – anzutreffen: beim Kaufhaus, beim Krankenhaus oder bei Schulgebäuden.
Schöne neue Welt
Gemäß Thomáš Bat’as Maxime „Gemeinsam arbeiten, individuell leben“ sehen die Wohnhäuser völlig anders aus. Es sind einfache kubische Ziegelbauten mit Flachdach, für höchstens vier Parteien bestimmte Wohnhäuser, die frei und ohne Zäune von Gärten umgeben sind. Geschosswohnungsbau lehnte Thomáš Bat’a ab, aus Furcht, die Arbeiterschaft könne sich in der Freizeit organisieren. Kontrolle und Disziplin der Beschäftigten aber erachtete Thomáš Bat’a für die Massenproduktion von Schuhen als unumgänglich. Der Alltag in Zlín in den beiden Jahrzehnten vor dem Zweiten Weltkrieg erinnert daher an Schilderungen von Aldous Huxley oder George Orwell. Thomáš Bat’a glich einem allgegenwärtigen Big Brother. Überall in der Stadt waren Parolen angebracht, aus Lautsprechern ertönten Slogans. Thomáš Bata gehörte nicht nur die Fabrik, alle Gebäude, kurzum die ganze Stadt, zu deren Bürgermeister er schließlich auch noch gewählt wurde. Nachdem er 1932 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen war, wurde ihm von seinem Nachfolger, dem 22 Jahre jüngeren Halbbruder Jan Antonin Bat’a, eine Gedenkhalle errichtet. Hoch über der Stadt, von überall sichtbar und natürlich im Standardmaß von 6,15 x 6,15 Metern thronte das komplett verglaste Bauwerk, das nur die Unglücksmaschine, die sechssitzige Junkers F 13 der Bata AG, beherbergte.
Den Bau gibt es immer noch, inzwischen beidseitig mit Backstein erweitert und durch eingezogene Zwischendecken verändert, dient er heute als Kunstgalerie. Auch die nach dem Krieg verstaatlichte Fabrik und die Wohnhäuser existieren noch. Nur werden heute in Zlín keine Schuhe mehr produziert. Bata ist dennoch allgegenwärtig.
Das galt vor allem, als kürzlich in Zlín das Symposion zur „Utopie der Moderne“ stattfand. Initiiert hatte es Zipp – ein von der Bundeskulturstiftung ins Leben gerufenes deutsch-tschechisches Kulturprojekt.
Umgang mit Moderne
Zipp will mit den Tschechen über übernationale Problemstellungen ins Gespräch kommen. Es ging um den Umgang mit den Hinterlassenschaften der Moderne in urbanistischer Hinsicht. „Learning from Zlín?“ hieß die Frage. Was aber könnte man von Zlín lernen? Zunächst einmal viel Historisches.
Zlín, obwohl die erste funktionalistische Idealstadt der Moderne, ist selbst unter Fachleuten ziemlich unbekannt. Als die Crème de la Crème der avantgardistischen Architekten unter Führung von Le Corbusier 1933 ihre Charta von Athen verfasste, in der die funktionalistische Trennung von Arbeiten, Wohnen und Verkehr als Leitbild im Städtebau beschlossen wurde, da gab es das alles in Zlín bereits – und es funktionierte. Allerdings – und das war die Crux – nicht als linkes Weltverbesserungsprojekt, sondern als Instrument zur Effizienzsteigerung der Produktion eines Privatunternehmens. Dass die Arbeiter dazu im Grünen wohnen konnten, in werkseigenen Restaurants nach ernährungswissenschaftlichen Erkenntnissen verköstigt und im zweitgrößten Kino Mitteleuropas unterhalten wurden, gehörte ebenso dazu wie die ständige Erreichbarkeit der Belegschaft mittels Telefon und deren Mobilität mit elektrischen Trolleybussen. Auf viele der von Bata eingeführten „Errungenschaften“ musste man bekanntlich in den Arbeiter-und-Bauern-Staaten des real existierenden Sozialismus noch Jahrzehnte später verzichten.
Im vier Autostunden entfernten Prag konnte man übrigens schon seit letztem März der Historie von Zlín auf die Schliche kommen. Eine im kommenden November zu Teilen in die Pinakothek der Moderne nach München wandernde Ausstellung betrieb eine Art ästhetische Bestandsaufnahme des „Fenomen Bata“. Bata-Schuhe, Bata-Reifen, Bata-Spielzeug, Bata-Häuser, das Bata-Filmstudio und seine Filme und schließlich die Bata-Stadt Zlín als Idealstadt vom Reißbrett, all das waren Bata-Produkte. Kurzum: Bata organisierte das ganze Leben. Die Ausstellung kam in Prag außerordentlich gut an, der Katalog war schnell vergriffen. Die Bata-Planungen für Zlín erscheint den Tschechen heute wie eine paradiesische Utopie.
Schließlich gelten die 20er-und 30er-Jahre für die damals zu Selbstständigkeit gekommene tschechische Republik noch immer als das „Goldene Zeitalter“. Die Moderne als Stilform war ihr Ausdruck. Das lässt sich nicht nur an so modernistischen Ikonen wie den Villen von Adolf Loos in Prag oder Ludwig Mies van der Rohe in Brünn ablesen, sondern ebenso an den vielen modernistischen Schuhgeschäften der Firma Bata, die damals das ganze Land überzogen und noch heute Zeichen setzen. Modernität war das Markenzeichen von Bata. Bata aber war in der Zwischenkriegszeit das größte tschechische Unternehmen überhaupt, eine Firma, die nicht nur weltweit Schuhe verkaufte, sondern das Modell Zlín global reproduzierte. Nach Zlíner Muster entstanden Städte gleich dutzendweise in Europa, Indien, Brasilien, den USA und Kanada. Sie trugen Namen wie Bataville (Frankreich), Batatuba (Brasilien), Batanugar (nahe Kalkutta).
Kleine Unternehmen
Wie aus einem Film auf dem Symposion in Zlín zu erfahren war, würden wohl 90 Prozent der Arbeiter/innen der Bata-Fabrik in East Tilbury im britischen Essex gerne wieder bei Bata arbeiten. Allein die Schuhproduktion in Europa lohnt sich nicht mehr. Auch in Zlín werden seit Ende des Kommunismus keine Schuhe mehr produziert. Zlín – und hier beginnen die deutsch-tschechischen Parallelen – muss sich im postfordistischen Zeitalter dem globalen Wettbewerb stellen. Angeblich ist Zlín das gelungen. Die Arbeitslosigkeit liege bei 7 Prozent, und in die alten Bata-Fabrikhallen ist eine Vielzahl kleinerer Unternehmen eingezogen. Auch eine Thomáš-Bat’a-Universität ist entstanden. Das Stadtbild selbst wirkt durchaus nicht museal. Die Stadtoberen haben bewusst auf eine Bewerbung für die Unesco-Liste des Weltkulturerbes verzichtet. Zlín, so heißt es, stehe für Unternehmertum. Thomáš Bat’a, der es vom Schuster zum Lenker eines Weltkonzerns geschafft hatte, gilt als Vorbild.
Am Ende des Symposions hielten sich die internationalen Urbanismus-Experten denn auch mit Kritik zurück. Das Modell Zlín funktioniere gar nicht mal schlecht. Die moderne Architektur der Bata-Bauten – ob Fabrik oder Wohnhaus – mache jedenfalls die geringsten Probleme. Die Wohnhäuser werden von den Bewohnern unter Aufsicht des Denkmalschutzes im Einheitslook wärmegedämmt und die ehemalige Konzernzentrale von Bata ist preisgekrönt restauriert worden. Sie beherbergt heute die Regionalverwaltung und das Finanzamt von Zlín. Auch den Fahrstuhl mit dem Büro von Jan A. Bat’a gibt es hier noch. Der „Š’ef“ konnte mit dem bizarren Vehikel plötzlich auf jeder der 17 Etagen auftauchen. Der rekonstruierte Aufzug ist heute außer Betrieb und eines der wenigen Dinge in Zlín, das einen musealen Eindruck macht.
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