Pro: Johanna Rahner

Die Revolution ist eine Idee unserer Zeit. Sie ist der alles umstürzende Beginn eines noch nie Dagewesenen. Seit der Französischen Revolution verstehen wir »Revolution« als historische Zäsur. Davor verwies das Wort noch auf etwas anderes, auf die stete Wiederkehr des Gleichen. Aber was war nun das Zweites Vatikanische Konzil: Umsturz des Katholischen? Oder Rückkehr zum Ausgangspunkt des Glaubens? Oder beides? Das Konzil selbst versteht den Bruch, den es vollzieht, als Wiederentdeckung des Katholischen: einerseits ressourcement – Rückbesinnung auf die Vielfalt der eigenen Quellen; andererseits aggiornamento – Öffnung des Blicks nach außen. Dabei will das Konzil auch den konservativen christlichen Prophezeiungen vom Verfall der Welt widerstehen.

Bereits in der Eröffnungsansprache, die der Konzilspapst Johannes XXIII. am 11. Oktober 1962 hielt, gab er die Grundrichtung vor. Deutlich grenzt er sich von jenen Unglückspropheten ab, die »unablässig« davon reden, »dass unsere Zeit im Vergleich zur Vergangenheit dauernd zum Schlechteren abgeglitten sei«. Der Papst hält dagegen: »In der gegenwärtigen Entwicklung der menschlichen Ereignisse muss man viel eher einen verborgenen Plan der göttlichen Vorsehung anerkennen. Alles, auch die entgegengesetzten menschlichen Interessen, lenkt er weise zum Heil der Kirche.«

Man darf die revolutionäre Dynamik nicht unterschätzen, die sich hinter diesen schlichten Worten verbirgt. Gerade weil die Wahrheit des Evangeliums unaufhebbar mit den Erfordernissen der Zeit verwoben ist, muss die Kirche sich wandeln – um sich treu zu bleiben. Das Neue erwächst aus der Rückbesinnung auf das Eigentliche! In der Erklärung des Konzils zur Religionsfreiheit, Dignitatis humanae, wird uns diese Grundidee vor Augen geführt.

Reaktionäre sprechen von Verrat

Es ist kein Wunder, dass die Schrift bis heute von reaktionären Kreisen, etwa den Piusbrüdern, als Verrat an der Wahrheit des Katholischen denunziert wird. Denn die Konzilsväter haben gleich zu Beginn den entscheidenden Satz betont: Die Würde der menschlichen Person, die in der unteilbaren Freiheit aller zum Ausdruck kommt, ist das unerschütterliche Fundament der Religions- und Gewissensfreiheit.

Das Konzil war ein Umbruch. Es öffnete die Kirche für eine neue Zeit und die Freiheit. Kein Zwang in Glaubensdingen!
Johanna Rahner

Freiheit gründet in der Wahrheit Gottes selbst. Kein Zwang in Glaubensdingen! Ein theologisch uralter Gedanke gestaltet sich auf revolutionäre Weise neu: Der Wahrheitsbegriff steht hier nicht mehr gegen den Freiheitsbegriff, sondern erfüllt sich in diesem. Verkündigung des Evangeliums und Mission werden nur noch mit Rekurs auf die Wahrheitsfähigkeit und Freiheit des Menschen begründet. Das Konzil fordert Respekt vor der Gewissensentscheidung des Einzelnen. Göttliche Wahrheit überzeugt durch sich selbst – oder eben nicht.

So versteht die Kirche des Konzils die Grundprinzipien einer modernen, demokratischen, ja säkularen Gesellschaft nicht mehr als aufgezwungene Fremdperspektive oder gar als Anbiederung an den Zeitgeist, sondern als theologisches Kerngeschäft. Die Freiheit ist ihr Aufgabe und Sendung. Darin besteht der große Unterschied zur katholischen Festungsmentalität des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Antimodern oder antidemokratisch zu sein ist keine tolerierbare religiöse Attitüde mehr, sondern ein Irrtum! Erst die Schleifung dieser Bastionen ermöglicht das Wagnis einer offenen, dialogischen Existenz. Die Katholiken sind nun herausgefordert, »die Zeichen der Zeit im Lichte des Evangeliums« zu deuten – so die Formel, mit der die Pastoralkonstitution Gaudium et spes den notwendigen Wandel auf den Punkt bringt.

In den letzten Jahren mehren sich kritische Stimmen, dass diese Sicht des Konzils ein epochaler Irrtum gewesen sei. Die Kirche habe sich in einem »Anfall von Euphorie und Optimismus« der Moderne geöffnet, schrieb Joseph Ratzinger 1983, der als junger Theologe am Konzil teilgenommen hatte. Doch was wäre die Alternative? Das Ideal einer zeitlos-entweltlichten Kirche ewig gleicher Wahrheiten?

Der deutsche Theologe Karl Rahner, der als Sachverständiger das Konzil maßgeblich beeinflusste, hat die Antwort gegeben: »Es ist naiv zu meinen, in dieser Weltzeit würde die Kirche jemals aufhören, müde Pilgerin durch die Zeiten, Kirche der Sünder, der Schwachen und der Elenden zu sein. Alle Erneuerung, aller Fortschritt der Kirche wird immer wieder hineinverzehrt werden in die Erfahrung der Mühsal der Geschichte, in die Enttäuschung über uns selbst, die wir doch die Kirche sind und sie also auch so erfahren werden, wie wir uns erfahren müssen, so wir nur wahrhaftig gegen uns selbst sind.« Das heißt: Die alte Kirche muss sich stets erneuern. Aber alle Erneuerung hängt davon ab, ob wir Mut zur Wahrheit haben – ob wir unsere eigene Unvollkommenheit eingestehen, und die Unvollkommenheit der Kirche auch.

Johanna Rahmer

Contra: Norbert Lüdecke

Ein Konzil ist, wenn der Papst seine Getreuen um sich schart. Als Johannes XXIII. damals zweieinhalbtausend zölibatär lebende katholische Männer nach Rom beorderte, damit sie unter seiner Autorität zukunftsweisende Kirchentexte beschlossen, da mussten sie sich an die von ihm erlassene Geschäftsordnung halten und die von ihm genehmigte Tagesordnung abarbeiten. 95 Prozent dieser Männer waren Bischöfe, deren Bischofsvotum aber nur Geltung erlangte, wenn der Konzilspapst ihren Texten zustimmte, sie genehmigte und die amtliche Veröffentlichung anordnete. Kann ein katholisches Konzil ein Reformkonzil sein? Nein.

Denn das Erste Vatikanum im Jahr 1869/70 hatte den Papst zum absoluten Leiter und unfehlbaren Lehrer der Kirche dogmatisiert, sich ihm unwiderruflich unterworfen. Ein weiteres Konzil schien nicht mehr nötig. Insofern war die Initiative für ein Zweites Vatikanum im Jahr 1962 eine Überraschung. Nicht überraschend, weil alternativlos, war der Initiator: Nur der oberste Pontifex mit seinem Gewaltprimat kann ein Konzil einberufen.

Um ein Reformkonzil konnte es also nicht gehen – wenn das Wort »Reform« für jene großen Hoffnungen steht, die die Konzilsgeneration mit dem Ereignis bis heute verbindet und in der Chiffre vom »Geist des Konzils« wachhält. Hierzu zählen die Hoffnungen auf einen Abbau der kirchlichen Hierarchie durch Mitbestimmung der Laien, auf innerkirchliche Verwirklichung der Menschenrechte, auf Gleichberechtigung der Frau. Für solche Reformen steht das Zweite Vatikanum nicht – weder in seinen Lehren noch in seiner Umsetzung.

Auch bei einem Konzil hat der Papst das Sagen. Reformen erlaubt nur er. Das Reformkonzil ist also ein Mythos.
Norbert Lüdecke

Jedes Konzil ist rechtlich in der Hand des Papstes. Alle konziliaren Dokumente sind von seinem Primat durchwirkt. Inhaltlich sind sie in einen sakrosankten Rahmen göttlicher Vorgaben gespannt. Hierzu gehört, dass Christi einzige Kirche als Heilsanstalt vom Papst und seinen Bischöfen geleitet wird und dass es in dieser Kirche mit Klerikern und Laien zwei Sorten von Menschen gibt. Ihre strikte Trennung in einen rein männlichen Befehlsstand und einen gemischtgeschlechtlichen Gefolgschaftsstand – theologisch gesprochen: in Hirten und Schafe – verletzt die Gleichheit der Gläubigen vor Gott nicht.

Nach amtlichem Verständnis bleibt ein Unterschied zwischen klerikal lehrender und laikal hörender Kirche. Er wurde auf dem Konzil selbst sinnfällig, als Papst Paul VI. im Jahr 1963 nachträglich einige männliche Laien als Sachverständige zuließ, ein Jahr später dann auch ein paar Frauen als Zuhörerinnen. Die vom Zweiten Vatikanum tatsächlich erreichte Aufwertung der Laien bedeutet: Sie kommen als Basis des pyramidalen Kirchenbaus in den Blick. Aber auch eine Pyramide mit ausgeleuchteter Basis bleibt eine Pyramide.

Nicht nur die Durchführung, auch die Hoheit der Konzilsdeutung liegt beim Papst. Johannes Paul II. hat sie mit seinem Gesetzbuch von 1983 ausgeübt und darin die hierarchische Struktur der Kirche in selbstbestimmter Treue zum Konzil perfektioniert. Zu dessen besserem Verständnis empfahl er, die Gesetze zu lesen und zu befolgen. Jeder Papst kann sagen: »Le Concile c’est moi.« Was Außenstehende befremden mag, ist katholisches Selbstverständnis.

Wozu werden dann aber allenthalben Konzilsjubiläen begangen? Wenn auf dem letzten Katholikentag eine »Konzilsgala« im TV-Format sich »historisch-heiter« erinnert (nur das Fernsehballett fehlte), ist das Konzil in nostalgischer Larmoyanz ad acta gelegt. Wer heute die tiefere Erforschung der Konzilstexte anmahnt, um angeblich ungehobene Schätze zu bergen, diffamiert fünfzig Jahre Konzilsforschung und schickt Theologen in ein aussichtsloses Rennen – weil die Theologie der Hase ist, der am Ende jeder durchhasteten Furche auf den Lehramts-Igel trifft. Ob, was Theologen heben, ein Schatz ist, bestimmt der Papst.

Wo sich prominente Laien für Reformforderungen auf das Konzil berufen, verhalten sie sich systemstimmig und systemwidrig zugleich. Gut katholisch ist, eine Autorität zu bemühen. Nur ist das Konzil keine Autorität, die gegen das Papstprimat zieht. Und: Auch an runden Tischen werden aus Hirten keine Schafe. Die Hirten wissen das. Selbst katholische Spitzenpolitiker bleiben innerkirchlich bloße Laien.

Als Konzil von Reformen, die diesen Namen verdienen, ist das Zweite Vatikanum ein Mythos. Viele katholische Gläubige wollen sich diesen Mythos nicht nehmen lassen. Aber katholische Theologen sollten ihn nicht befördern. Die Wahrheit auszusprechen, auch wenn sie für reformwillige Katholiken schmerzlich sein mag, ist ein Gebot der Fairness.

Norbert Lüdecke