„Before“ ist Gänsehaut-Mystery bei Apple TV+
Die Pilotfolge der neuen Mysteryserie „Before“ bei Apple TV+ präsentiert sich kurz, knackig, pointiert und bedient sich altbekannter Genreversatzstücke. Warum uns das triggert, erfahrt Ihr in unserem Review zur ersten Folge „Der Hochstapler“.
Spoilerwarnung - diese Meldung kann Hinweise auf die Fortführung der Handlung enthalten!
Das passiert in der ersten Folge der Serie „Before“
Der Kinderpsychiater Eli Adler (Billy Crystal) wird in der Mysteryserie Before nach dem Suizid seiner Ehefrau von Albträumen geplagt. Er zieht sich zurück, ist kaum in der Lage zu arbeiten und verkraftet den Verlust einfach nicht. Eines Tages steht plötzlich der kleine Noah (Jacobi Jupe) vor seiner Tür. Obwohl Eli den Jungen nicht kennt, taucht das offensichtlich verängstigte und traumatisierte Kind von nun an immer wieder bei ihm auf.
Nachdem Eli ihn als Patienten aufgenommen hat, geschehen jedoch seltsame Dinge. Noah schlägt scheinbar unmotiviert panisch um sich und spricht Holländisch, wie es im 17. Jahrhundert üblich war. Außerdem scheint er Details aus dem Leben von Elis verstorbener Frau zu kennen, über die er nichts wissen kann. Was geschieht mit Noah? Warum starrt er immer wieder angsterfüllt an die Decke und wieso spricht er eine Sprache, die seit 200 Jahren so nicht mehr gesprochen wird? Die Suche nach Antworten zieht Eli in Geschehnisse hinein, die sich weit über das hinaus erstrecken, was er für die Realität hält...
Mystery aus dem Lehrbuch
Nach der Pilotfolge zu urteilen, ist „Before“ Mystery wie aus dem Filmhandbuch. Die Serienerfinderin Sarah Thorp (Damien) verrührt in ihrem neuesten Werk so ziemlich jedes Genreversatzstück, das den Suspensefaktor auf die Spitze treibt und kombiniert diese mit einer knackig erzählten Geschichte. Um dem Ganzen eine noch größere Gänsehautatmosphäre zu verleihen, stellt die Autorin ihrem gut situierten aber nach dem Freitod seiner Frau traumatisierten Protagonisten ein Kind mit Augen gegenüber, die dazu angetan sind, dem Publikum das Blut in den Adern gefrieren zu lassen.
Mit anderen Worten lässt das Produktions-Team keine Gelegenheit aus, ein gewisses Horrorfeeling zu erzeugen, ohne die Zuschauenden darüber in Kenntnis zu setzen, ob die Geschehnisse der Fantasie der Figuren entspringen oder doch real sind. Das ist ein guter Ansatz mit Potential, der - so viel sei eingangs verraten - zumindest in der Debütepisode schon mal bestens funktioniert.
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Der Anfang
Die Geschichte beginnt mit einer routiniert inszenierten Zombie-haften Albtraumsequenz, dessen Inhalt aber keineswegs so gruselig wie die Bilder sind, die wir zu sehen bekommen. Statt eines Untoten erleben wir nämlich mit, wie sich die Hauptfigur Eli in einem leeren Schwimmbecken immer wieder von einem Sprungbrett aus in den Tod stürzt. Das Schreckliche für den frischen Witwer ist dabei gar nicht unbedingt die Tat als solche, sondern, dass er sie jedes Mal überlebt und dazu verdammt ist, sie Nacht für Nacht zu wiederholen.
Auf diese Weise visualisiert das Autoren-Team den Seelenzustand des Protagonisten und stellt ihn bildlich als gebrochen und bewegungsunfähig dar. Denn Eli kann trotz der psychiatrischen Ausbildung seiner Trauer nicht entfliehen. In einer Szene fragt er seine Kollegin, wie er anderen helfen kann, wenn er seine eigene Frau nicht vor dem Selbstmord bewahren konnte. Entscheidender ist indes, dass er auch sich selbst nicht zu helfen vermag.
In dieser verfahrenen Lebenssituation lernt Eli auf mehr als ungewöhnliche Weise den kleinen Noah kennen. Der Junge steht eines Tages mit abgerissenen Fingernägeln und blutenden Kuppen vor seiner Tür, nachdem er mit der bloßen Hand eine unverständliche Nachricht ins Holz geritzt hat. Das eigenartige Verhalten des Kindes steigert die im Cold Open erzeugte Mystery-Atmosphäre und lässt den Spannungsbogen hochschnellen. Wir erleben mit, wie Noah sich regelrecht an Eli klammert, nachts plötzlich in seinem Schlafzimmer vor seinem Bett steht und offensichtlich eine geheimnisvolle Verbindung zu ihm hat.
Dabei spricht er kein einziges Wort und scheint auch sonst immer wieder Phasen des Realitätsverlustes zu erleben. Das vermittelte Bild eines psychisch kranken Kindes bricht aber rasch auf, als uns die Serienmacher unvermittelt vor Augen führen, warum Noah so verstört ist und anderen Menschen gegenüber ohne Vorwarnung gewalttätig wird. Egal, wo er sich auch aufhält: ein schwarzes, halb fluides Etwas verfolgt ihn, kriecht von der Decke über die Wände und befällt die Personen in seiner Nähe. Der Junge greift also in Wirklichkeit niemanden an, sondern verteidigt sich vielmehr gegen das Böse.
Seelenwanderung?
Und nun folgt der Kniff an der Story, denn Noah malt Bilder mit Details aus Elis Leben, die er gar nicht kennen kann und bittet den Psychologen sogar in einem Moment, in dem er der Entität hilflos ausgeliefert ist, in altmodischem Holländisch um Hilfe. Da sich Elis Frau in der vollgelaufenen Badewanne ihres Hauses das Leben nahm und er sich in seinen Albträumen in einen leeren Pool stürzt, hat auch der fluide Zustand des Wesens Sinn. Denn nun stellt sich die Frage, ob wir es hier nicht vielleicht mit einer ruhelosen Seele zu tun haben, die von einem Kind Besitz ergreift.
Als Motiv käme durchaus Rache infrage, denn offensichtlich plagen Eli massive Schuldgefühle. Doch sind diese tatsächlich nur der Tatsache geschuldet, dass er ihr nicht helfen konnte oder liegen die Gründe für die Albträume nicht doch tiefer? Klugerweise impliziert Sarah Thorp diese Frage, stellt sie aber nur im Subtext der Geschichte und verdichtet damit das Mysterium.
Eine andere Idee ist, dass Noahs Verhalten in Wahrheit eben doch auf eine psychische Erkrankung zurückgeht und er sich lediglich aufgrund eines guten Gedächtnisses an Details aus Elis Leben erinnert, weil er sie in dessen Haus entdeckte. Die Krankheit würde sich dann in zwar beklemmenden und beängstigenden Bildern manifestieren, wäre aber letztlich nicht mehr als ein Hirngespinst. Welchen Weg „Before“ genau einschlägt, wird sich womöglich erst im späteren Verlauf der Staffel zeigen. Zunächst geht es höchstwahrscheinlich darum, das Rätsel zu verdichten und die Atmosphäre zu halten, was mit der von Regisseurin Jet Wilkinson gewählten tiefgründigen symbolträchtigen Bildsprache nicht allzu schwer sein dürfte.
Fazit
Der Hochstapler ist ein nahezu perfekter Einstieg in eine mysteriöse, albtraumhafte und möglicherweise psychologisch fordernde Geschichte, die dank sinnvoll zusammengesetzter Versatzstücke, dem Kontrast der Hauptfiguren und Gänsehautbildern hervorragend funktioniert. Weil sich das Format auf kurze, knackige Episoden in der Länge von jeweils circa 30 Minuten konzentriert, geht es zudem zügig voran. Sarah Thorp verschwendet keine Sekunde Zeit und entführt uns in eine schaurig-schöne Welt, in der alles möglich scheint - oder auch nichts...
Für diesen gelungenen Start gibt es von uns viereinhalb von fünf Albträumen.