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Zitiert durch:
BVerfGE 159, 40 - Wahlrechtsreform 2020 eA
BVerfGE 157, 300 - Unterschriftenquoren Bundestagswahl
BVerfGE 151, 1 - Wahlrechtsausschluss Bundestagswahl
BVerfGE 124, 1 - Nachwahl
BVerfGE 123, 39 - Wahlcomputer
BVerfGE 122, 304 - Wahlprüfungsbeschwerde nach Bundestagsauflösung
BVerfGE 121, 266 - Landeslisten
BVerfGE 95, 408 - Grundmandatsklausel
BVerfGE 95, 335 - Überhangmandate II
BVerfGE 89, 291 - Wahlprüfungsverfahren
BVerfGE 85, 148 - Wahlprüfungsumfang
BVerfGE 68, 287 - Rechnungszinsfuß
BVerfGE 67, 299 - Laternengarage


Zitiert selbst:
BVerfGE 56, 54 - Fluglärm
BVerfGE 55, 274 - Berufsausbildungsabgabe
BVerfGE 50, 290 - Mitbestimmung
BVerfGE 49, 89 - Kalkar I
BVerfGE 40, 11 - Wahlprüfung
BVerfGE 25, 1 - Mühlengesetz
BVerfGE 21, 200 - Briefwahl I
BVerfGE 5, 77 - Parteifreie Wählergruppen
BVerfGE 3, 383 - Gesamtdeutscher Block
BVerfGE 3, 19 - Unterschriftenquorum


I.
1. Die Beschwerdeführer haben gemäß § 2 Wahl ...
2. Die Stadtverwaltung Mayen hat zum Einspruch der Beschwerdef&uu ...
3. Der Deutsche Bundestag hat den Einspruch durch Beschluß  ...
4. Gegen diesen Beschluß haben die Beschwerdeführer am ...
II.
1. Das Wahlprüfungsverfahren nach Art. 41 GG dient dem Schut ...
2. Auch die von den Beschwerdeführern im Hinblick auf die Ge ...
Bearbeitung, zuletzt am 08.12.2022, durch: A. Tschentscher, Matthias Cantow
BVerfGE 59, 119 (119)Zur Verfassungsmäßigkeit der Briefwahl.
 
 
Beschluß
 
des Zweiten Senats vom 24. November 1981
 
-- 2 BvC 1/81 --  
in dem Verfahren über die Beschwerde 1. des Herrn F..., 2. des Herrn G... gegen den Beschluß des Deutschen Bundestages vom 7. Mai 1981 (BTDrucks. 9/316) wegen Einspruchs gegen die Gültigkeit der Wahl zum 9. Deutschen Bundestag vom 5. Oktober 1980.
 
Entscheidungsformel:
 
Die Wahlprüfungsbeschwerde wird verworfen.
 
 
Gründe:
 
I.
 
1. Die Beschwerdeführer haben gemäß § 2 Wahlprüfungsgesetz vom 12. März 1951 (BGBl. I S. 166, zuletzt geändert durch Gesetz vom 24. Juni 1975, BGBl. I S. 1593 -- WahlprüfG) die Wahl zum 9. Deutschen Bundestag am 5. Oktober 1980 angefochten und ihren Einspruch im wesentlichen wie folgt begründet:
BVerfGE 59, 119 (119)BVerfGE 59, 119 (120)In Mayen hätten 2345 Bürger (16,24%) durch Briefwahl gewählt, von denen etwa ein Drittel sich die Briefwahlunterlagen von einigen wenigen Vertretern einer Partei ins Haus habe bringen lassen. Einer Aufstellung des Kreiswahlleiters zufolge befänden sich unter den 15 Personen, denen jeweils mehr als 10 Briefwahlunterlagen ausgehändigt worden seien, einzelne, die 155, 144, 121, 101, 72 und 63 Unterlagen in Empfang genommen hätten. Manipulationen seien nicht auszuschließen. Diese könnten von Einfluß auf die Sitzverteilung im Bundestag gewesen sein.
2. Die Stadtverwaltung Mayen hat zum Einspruch der Beschwerdeführer wie folgt Stellung genommen:
Sie habe in jedem Einzelfall, in dem Briefwahlunterlagen nicht vom Wähler selbst beantragt oder abgeholt worden seien, schriftliche Vollmachten verlangt. Diese seien auch in jedem Einzelfall von den "Helfern" vorgelegt worden.
In einem Fernschreiben vom 26. September 1980 habe der Landeswahlleiter Rheinland-Pfalz den Kreiswahlleitern zur Briefwahlwerbung mitgeteilt: "Ich halte es ... für vertretbar und unter Umständen sogar für geboten, daß in den geschilderten Fällen, d. h. wenn immer ein Wahlhelfer eine Vielzahl von Vollmachten vorlegt, die auf systematische Besuche ganzer Straßenzüge schließen lassen, die Briefwahlunterlagen entgegen der erteilten Vollmacht direkt an den Wahlberechtigten in der sonst üblichen Weise zugestellt werden." Ein hierauf bezogenes Schreiben des Kreiswahlleiters mit der Empfehlung, entsprechend zu verfahren, habe sie am 1. Oktober 1980 erhalten. Von diesem Zeitpunkt an seien nur noch Einzelanträge eingegangen.
3. Der Deutsche Bundestag hat den Einspruch durch Beschluß vom 7. Mai 1981 als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen.
Die in § 36 Bundeswahlgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 1. September 1975 (BGBl. I S. 2325, geändert durch Gesetz vom 20. Juli 1979, BGBl. I S. 1149 -- BWahlG) vorgesehene Briefwahl diene dem Ziel, möglichst allen WahlBVerfGE 59, 119 (120)BVerfGE 59, 119 (121)berechtigten die Teilnahme an der Wahl offenzuhalten. Dem trage § 19 Abs. 2 Bundeswahlordnung vom 8. November 1979 (BGBl. I S. 1805 -- BWO) Rechnung, der vorschreibe, daß der Benachrichtigung an den Wahlberechtigten, er sei in das Wählerverzeichnis eingetragen, ein Vordruck für einen Antrag auf Ausstellung eines Wahlscheines beizufügen sei. Andererseits müsse das Verfahren die Gewähr dafür bieten, daß die Verfassungsgrundsätze der freien und geheimen Wahl nicht verletzt würden. Das Bundeswahlgesetz und die Bundeswahlordnung enthielten zahlreiche Vorschriften, die auf die Begrenzung des Kreises der Briefwahlberechtigten und die Verhinderung von Manipulationen abzielten (vgl. §§ 27 Abs. 2 und 3, 25 Abs. 1, 28 Abs. 4 S. 1 BWO, 36 Abs. 2 Satz 1 BWahlG i.V.m. der Strafandrohung des § 156 StGB).
Ob mit den Bestimmungen des Bundeswahlgesetzes und der Bundeswahlordnung alle Möglichkeiten erschöpft seien, um Unkorrektheiten bei der Briefwahl in ausreichendem Maße zu begegnen, könne dahingestellt bleiben. Die Stadtverwaltung Mayen habe jedenfalls alles Erforderliche getan, um eine Einhaltung der wahlrechtlichen Bestimmungen zu erreichen. Sie habe kaum unterstellen können, daß mit jeder Besorgung von Briefwahlunterlagen durch Wahlhelfer eine Wahlbeeinflussung verbunden sei.
Die Beschwerdeführer stützten ihren Einspruch nur auf Vermutungen, ohne auch nur für einen konkreten Fall der Verletzung der Grundsätze der freien und geheimen Wahl Beweis anzubieten.
4. Gegen diesen Beschluß haben die Beschwerdeführer am 3. Juni 1981 Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht erhoben und dieser mehr als 100 Beitrittserklärungen beigefügt.
Zur Begründung tragen die Beschwerdeführer im wesentlichen vor:
Der massive Einsatz von Briefwahlwerbern begegne verfassungsrechtlichen Bedenken.
Das Bundesverfassungsgericht habe zwar in dem BeschlußBVerfGE 59, 119 (121)BVerfGE 59, 119 (122) vom 15. Februar 1967 (BVerfGE 21, 200) die Ausgestaltung der Briefwahl als verfassungsmäßig erachtet. In der Zwischenzeit hätten sich indes die Verhältnisse derart geändert, daß die verfassungsrechtlichen Bedenken nicht mehr aus den in jener Entscheidung genannten Gründen entkräftet werden könnten. Die Briefwahlbeteiligung sei in einer Weise gestiegen, daß man von einer Ausnahmeerscheinung nicht mehr sprechen könne. Auch könne nicht mehr, wie 1967 in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, aus dem (geringen) Umfang der Briefwahlbeteiligung geschlossen werden, daß die Bestimmungen über die Briefwahl offensichtlich geeignet seien, einer Ausweitung und einem Mißbrauch der Briefwahl vorzubeugen.
Im einzelnen seien unter anderem die folgenden Möglichkeiten der Einflußnahme auf die Wahlentscheidung eines Briefwählers nicht zu übersehen: Der Werber könne noch im Moment der Wahl die Vorzüge seiner Partei schildern. Der Briefwähler scheue sich, den Werber beim Ausfüllen des Stimmzettels aus dem Zimmer zu weisen und wage womöglich in dessen Gegenwart nicht, eine andere Partei zu wählen. Es sei auch denkbar, daß der Werber bei der Gemeindebehörde abgeholte Briefwahlunterlagen nicht zum Wähler bringe. Diese Unterlagen stünden zur freien Verfügung. Nehme der Werber den Wahlbrief gleich wieder mit, so hänge dessen Schicksal von der Vertrauenswürdigkeit des Werbers ab.
Es treffe auch nicht zu, daß die Stadtverwaltung Mayen alles getan habe, um eine Einhaltung der Wahlrechtsbestimmungen zu erreichen. Die Stadtverwaltung habe selbst Bedenken gegen den Einsatz von Briefwahlwerbern gehabt; andernfalls hätte sie nicht die erfolgreichsten Werber namentlich und unter Erfassung ihrer "Erfolge" festgehalten.
Eines konkreten Beweises von Wahlrechtsverletzungen habe es angesichts des nachgewiesenen massiven Einsatzes von Briefwahlwerbern nicht mehr bedurft, zumal offenbar auch der Landeswahlleiter die Befürchtungen der Beschwerdeführer geteilt habe.BVerfGE 59, 119 (122)BVerfGE 59, 119 (123)
Es sei nicht auszuschließen, daß die bezeichneten Mängel die Sitzverteilung im Deutschen Bundestag beeinflußt hätten.
 
Die Beschwerde ist zulässig.
1. Das Wahlprüfungsverfahren nach Art. 41 GG dient dem Schutz des objektiven Wahlrechts, d. h. der gesetzmäßigen Zusammensetzung des Deutschen Bundestages (BVerfGE 37, 84 [89] m.w.N.; 48, 271 [280]). Es führt nur dann zum Erfolg, wenn Wahlfehler behauptet und festgestellt werden, die auf die Mandatsverteilung hätten von Einfluß sein können. Deshalb muß ein Einspruch gegen die Gültigkeit der Wahl zum Deutschen Bundestag, der gemäß § 2 Abs. 3 WahlprüfG zu begründen ist, einen Tatbestand, der sich als Wahlfehler qualifizieren läßt, erkennen lassen und durch genügend substantiierte Tatsachen belegen (vgl. BVerfGE 40, 11 [30]; 48, 271 [276]).
Der Deutsche Bundestag hat zutreffend festgestellt, daß der Einspruch der Beschwerdeführer diesen Anforderungen nicht genügt. Die Beschwerdeführer haben Wahlfehler nicht einmal behauptet, geschweige denn substantiiert dargetan. Sie halten sie nur für möglich.
Die Beschwerdeführer haben lediglich dargelegt, daß die Wähler in Mayen in erheblichem Umfange von der Möglichkeit der Briefwahl und der in der Bundeswahlordnung vorgesehenen Möglichkeit der Bevollmächtigung eines Dritten zur Beantragung des Wahlscheines (§ 27 Abs. 3 BWO) wie zur Abholung des Wahlscheines und der Briefwahlunterlagen (§ 28 Abs. 4 Satz 1 BWO) Gebrauch gemacht haben. Daran knüpfen sie, ohne daß sie dazu weitere Tatsachen vortragen, die Mutmaßung, einzelne von zahlreichen Briefwählern Bevollmächtigte hätten dabei gegen die Wahlvorschriften verstoßen, um das Wahlergebnis in einem von ihnen gewünschten Sinne zu beeinflussen. Sie führen indes kein Beispiel für die von ihnen selbst nur für möglich gehaltenen Wahlfehler an. Sie benennen auch keinen Fall,BVerfGE 59, 119 (123) BVerfGE 59, 119 (124)in dem die Grundsätze der freien und geheimen Wahl beeinträchtigt, in dem eine Vollmacht erschlichen oder gefälscht, ein Wahlbrief nicht oder verspätet, unvollständig oder verändert weitergeleitet worden wäre. Das aber wäre nach dem Gesetz erforderlich gewesen. Die Substantiierungslast nach § 2 Abs. 3 WahlprüfG ist dem Einspruchsberechtigten nicht deshalb nachzulassen, weil ihre Erfüllung im Einzelfall Schwierigkeiten insbesondere im tatsächlichen Bereich begegnen mag (BVerfGE 40, 11 [32]).
2. Auch die von den Beschwerdeführern im Hinblick auf die Gefährdung der Wahlfreiheit und der Wahrung des Wahlgeheimnisses gegen die Verfassungsmäßigkeit der Briefwahl ins Feld geführten Bedenken greifen nicht durch.
a) Das Grundgesetz schreibt in Art. 38 Abs. 1 Satz 1 lediglich vor, daß die Abgeordneten des Deutschen Bundestages in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl zu wählen sind, legt in Art. 38 Abs. 2 das Wahlalter für das aktive und passive Wahlrecht fest und überläßt im übrigen die Ausgestaltung des Wahlrechts einem Bundesgesetz (Art. 38 Abs. 3). Die dem Bundesgesetzgeber anvertraute Aufgabe erschöpft sich nicht in der Regelung technischer Einzelheiten. Sie erfordert vielmehr schon im Hinblick auf die Auswahl des Wahlsystems und dessen Durchführung im einzelnen vielfältige Entscheidungen von großer Tragweite. Dem Bundesgesetzgeber ist daher insoweit ein weiter Gestaltungsspielraum gewährt. Insbesondere bringt es die Natur der Sache mit sich, daß nicht jeder der verfassungsrechtlich festgelegten Wahlrechtsgrundsätze in voller Reinheit verwirklicht werden kann. Ob und inwieweit Abweichungen von einzelnen Wahlrechtsgrundsätzen im Interesse der Einheitlichkeit des ganzen Wahlsystems und zur Sicherung der mit ihm verfolgten, demokratischen Prinzipien entsprechenden staatspolitischen Ziele geboten sind, hat hiernach zunächst der Gesetzgeber zu entscheiden. Das Bundesverfassungsgericht prüft nur nach, ob der Gesetzgeber sich in den Grenzen des ihm vom Grundgesetz eingeräumten Gestaltungsspielraums gehalten oderBVerfGE 59, 119 (124)BVerfGE 59, 119 (125) ob er durch Überschreitung dieser Grenzen gegen einen verfassungskräftigen Wahlgrundsatz verstoßen hat. Dagegen ist es nicht Aufgabe des Gerichts zu prüfen, ob der Gesetzgeber innerhalb seines Ermessensbereichs zweckmäßige oder rechtspolitisch erwünschte Lösungen gefunden hat (vgl. BVerfGE 3, 19 [24 f.]; 3, 383 [394]; 5, 77 [81]).
Mit der Einführung der Briefwahl hat der Bundesgesetzgeber den ihm offenstehenden Gestaltungsspielraum nicht überschritten. Die Briefwahl eröffnet auch solchen Wahlberechtigten, die sich sonst aus gesundheitlichen oder anderen wichtigen Gründen gehindert sähen, ihre Stimme im Wahllokal abzugeben, die Teilnahme an der Wahl. Sie trägt dadurch dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl, der besagt, daß grundsätzlich alle Staatsbürger an der Wahl sollen teilnehmen können, in erhöhtem Maße Rechnung. Wenn der Gesetzgeber mit der Einführung der Briefwahl dem Ziel, eine möglichst umfassende Wahlbeteiligung zu erreichen, ein besonderes Gewicht beigemessen und damit zugleich die Wahrung der Freiheit der Wahl und des Wahlgeheimnisses in weiterem Umfange als bei der Stimmabgabe im Wahllokal dem Wähler anvertraut hat, so ist das verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (vgl. BVerfGE 21, 200 [204]). Das Bundesverfassungsgericht könnte dieser Entscheidung des Gesetzgebers nur entgegentreten, wenn sie mit einer übermäßigen Einschränkung oder Gefährdung der Grundsätze der unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahl verbunden wäre. Das ist nicht der Fall.
b) Voraussetzung für die Teilnahme an der Briefwahl ist, daß der Wähler einen Wahlschein besitzt (§ 36 BWahlG). Einen Wahlschein erhält nur, wer sich entweder am Wahltage während der Wahlzeit aus wichtigem Grunde außerhalb seines Wahlbezirks aufhält oder seine Wohnung in einen anderen Wahlbezirk verlegt und nicht in das Wählerverzeichnis des neuen Wahlbezirks eingetragen worden ist oder aus beruflichen Gründen, infolge Krankheit, hohen Alters, eines körperlichen Gebrechens oder sonst seines körperlichen Zustandes wegen denBVerfGE 59, 119 (125)BVerfGE 59, 119 (126) Wahlraum nicht oder nur unter nicht zumutbaren Schwierigkeiten aufsuchen kann (§ 25 Abs. 1 BWO). Diese Gründe sind glaubhaft zu machen (§ 27 Abs. 2 BWO). Wer für einen anderen den Antrag auf Erteilung eines Wahlscheines stellt, muß durch Vorlage einer schriftlichen Vollmacht nachweisen, daß er dazu berechtigt ist (§ 27 Abs. 3 BWO). Entsprechendes gilt für die Aushändigung der Briefwahlunterlagen an einen anderen als den Wahlberechtigten persönlich (§ 28 Abs. 4 Satz 1 BWO). Der Wähler hat dem Kreiswahlleiter des Wahlkreises, in dem der Wahlschein ausgestellt worden ist, in einem verschlossenen Wahlbriefumschlag seinen Wahlschein und in einem besonderen verschlossenen Umschlag seinen Stimmzettel zu übersenden (§ 36 Abs. 1 BWahlG). Der Stimmzettel ist unbeobachtet zu kennzeichnen und in den Wahlumschlag zu legen (§ 66 Abs. 3 Satz 1 BWO). Auf dem Wahlschein hat der Wähler an Eides Statt zu versichern, daß er den Stimmzettel persönlich gekennzeichnet hat (§ 36 Abs. 2 BWahlG).
Diese Regelung verletzt nicht die Grundsätze der freien und geheimen Wahl. Sie überläßt es zwar weitgehend dem Wahlberechtigten, in seinem Bereich selbst für die Wahrung des Wahlgeheimnisses und der Wahlfreiheit Sorge zu tragen. Dies wird ihm indes in aller Regel keine Schwierigkeiten bereiten. Ist eine Beeinträchtigung der Wahlfreiheit und des Wahlgeheimnisses durch die Anwesenheit eines Dritten zu befürchten, so kann und soll er diesen auf sein Recht zur freien und geheimen Ausübung der Wahl und auf seine Verpflichtung hinweisen, den Stimmzettel unbeobachtet auszufüllen und in den Wahlumschlag zu legen sowie an Eides Statt zu versichern, daß er den Stimmzettel persönlich gekennzeichnet hat. Bittet er im Hinblick darauf, ihn beim Ausfüllen des Stimmzettels und dem Verschließen des Wahlumschlags allein zu lassen, so wird dem der Dritte regelmäßig Folge leisten. Hält der Wahlberechtigte es im Einzelfall nicht für möglich, auf diese oder andere Weise das Wahlgeheimnis und seine Entschließungsfreiheit zu wahren, so kann er davon absehen, sich die Briefwahlunterlagen, die ihm nur aufBVerfGE 59, 119 (126)BVerfGE 59, 119 (127) Antrag zur Verfügung gestellt werden, zu beschaffen oder zu benutzen und, wenn ihm die Umstände ausnahmsweise keine andere Wahl lassen, sich -- ebenso wie das auch vor der Einführung der Briefwahl der Fall war -- gezwungen sehen, auf die Stimmabgabe zu verzichten.
c) War der Gesetzgeber nach alledem nicht gehindert, sich für die Einführung der Briefwahl in ihrer gegenwärtigen Gestalt zu entscheiden, weil ihr grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedenken nicht entgegenstehen, so enthebt ihn dies nicht der Verpflichtung, auch künftig für eine bestmögliche Sicherung und Gewährleistung der Wahlrechtsgrundsätze zu sorgen. Gesetz- und Verordnungsgeber haben vielmehr die bisherige Regelung und Handhabung der Briefwahl ständig in Anbetracht neu auftretender Entwicklungen, die unvorhergesehene Gefahren für die Integrität der Wahl mit sich bringen können, zu überprüfen. Treten dabei Mißbräuche zutage, die geeignet sein können, die Freiheit der Wahl oder das Wahlgeheimnis mehr als unumgänglich zu gefährden, so erwächst daraus die verfassungsrechtliche Pflicht, die ursprüngliche Regelung im Wege der Nachbesserung zu ergänzen oder zu ändern (vgl. BVerfGE 25, 1 [12 f.]; 49, 89 [130]; 50, 290 [335]; 55, 274 [308]; 56, 54 [78 ff.]). Ebenso sind die zum Vollzug der Regelungen berufenen Wahlorgane und Gemeindebehörden gehalten, darüber zu wachen und im Rahmen ihrer Möglichkeiten dafür zu sorgen, daß bei der Briefwahl das Wahlgeheimnis und die Freiheit der Wahl gewährleistet bleiben.
Die von den Beschwerdeführern beanstandeten Formen der Briefwahlwerbung stehen zwar, wenn sie korrekt gehandhabt werden, mit den Vorschriften des Bundeswahlgesetzes und der Bundeswahlordnung nicht in Widerspruch. Sie lassen indes, wie die Beschwerdeführer im einzelnen dargelegt haben, für Gefährdungen der Freiheit der Wahl und des Wahlgeheimnisses, mehr als vom Sinn und Zweck der Briefwahl geboten, Raum und sind zumindest geeignet, einen bösen Schein zu wecken. Wenn bei einem Anstieg des Anteils der Briefwähler auch dasBVerfGE 59, 119 (127)BVerfGE 59, 119 (128) Ausmaß der beanstandeten Formen der Briefwahlwerbung zunimmt, wächst das verfassungsrechtliche Gewicht dieser Gefährdungen. Um den im Zusammenhang mit der Briefwahlwerbung nicht ohne weiteres von der Hand zu weisenden Mißbrauchs- und Manipulationsmöglichkeiten entgegenzuwirken, ließe sich etwa daran denken, künftig von der nach § 28 Abs. 4 Satz 1 BWO möglichen Aushändigung des Wahlscheins und der Briefwahlunterlagen an einen Bevollmächtigten abzusehen und diese statt dessen dem Wahlberechtigten auf dem Postwege oder in anderer Weise von Amts wegen unmittelbar zuzuleiten. Außerdem könnte durch eine verstärkte Bildung von Sonderwahlbezirken für Krankenhäuser, Altenheime, Altenwohnheime, Pflegeheime, Erholungsheime und gleichartige Einrichtungen (§ 13 i.V.m. § 61 BWO) sowie den gesteigerten Einsatz von beweglichen Wahlvorständen gemäß § 8 i.V.m. §§ 62 bis 65 BWO erreicht werden, daß jedenfalls für einen großen Teil der auf fremde Hilfe angewiesenen Wahlberechtigten die Notwendigkeit der Briefwahl entfällt.
Zeidler, Rinck, Wand, Dr. Dr. h.c. Niebler, Steinberger, Träger, Mahrenholz
 
Der Richter Rottmann ist an der Unterschrift verhindert. ZeidlerBVerfGE 59, 119 (128)