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Versöhnung

[519] Versöhnung, 1) die Handlung, mittelst welcher Menschen, welche mit einander in Zwist leben, sich entgegen kommen, um sich wieder zu vereinigen u. forthin in Friede u. Freundschaft zu leben; 2) (Expiatio), die Wiederherstellung des durch die Sünde aufgehobenen väterlichen Verhältnisses zwischen Gott u. den Menschen durch die verzeihende Liebe Gottes. Die Idee einer solchen V. findet sich nicht blos bei den ältesten Hebräern (s. Versöhnungsfest u. Opfer), sondern auch bei fast allen anderen Völkern (vgl. Reinigung). David u. einige Propheten achteten zwar die Darbringung eines Versöhnungsopfers nicht für unumgänglich nothwendig u. auch nicht für ausreichend, sondern weisen auf das Opfer des Herzens hin (1. Sam. 15, 22, Ps. 51, 18–21, Jesaias 1, 11); indessen blieb die Vorstellung eines symbolischen Versöhnungsactes fortwährend so vorherrschend, daß man im A. T. schon den verheißenen Messias als Versöhner (Jes. 53, 5) betrachtete u. dann seinen Kreuzestod damit in die genaueste Verbindung brachte. In der neutestamentlichen Lehre wird Christus im Brief an die Hebräer der Hohepriester genannt, welcher sich als ein ewig gültiges Opfer für die Menschheit hingibt; bei Johannes heißt er das Lamm Gottes, welches der Welt Sünde trägt; die Synoptiker machen die Stiftung des neuen Bundes (Testamentes) von dem Versöhnungstode Christi abhängig u. Paulus gründet darauf das ganze Erlösungswerk, für welches bei ihm, wie bei Johannes, die ewige Liebe Gottes den Ausgangspunkt bildet. Eine V. wird im Neuen Testament als nothwendig bezeichnet, indem das Gericht Gottes wegen des Sündenfalles eine Sühne verlange, welche der Mensch weder durch Gesetzeswerke, noch durch Opfer bewirken, sondern welche nur von der Liebe Gottes ausgehen u. in dem aus Liebe u. Gehorsam gegen ihn hervorgehenden freien Entschluß Christi sich vollenden könne. Frei von der Sünde, konnte Christus das Opfer für die Sünde[519] der Menschen bringen, u. indem er für uns zur Gerechtigkeit gemacht ist, verschafft er den Menschen Vergebung der Sünde. Die Lehre von der V. wurde in der alten Kirche zwar festgehalten, aber nicht gründlich entwickelt u. nach einer doppelten Richtung dargestellt, einmal so, daß sich Christus dem Teufel als ein Lösegeld für die demselben anheimgefallenen Menschen hingegeben, u. dann, daß er die Schuld der Menschen bei Gott gesühnt habe (Gregor von Nazianz). Sie fand zuerst durch Anselm von Canterbury eine wissenschaftliche Behandlung, indem er die Majestät Gottes als durch die Sünde beleidigt darstellt u. daraus die Nothwendigkeit einer von dem Gottmenschen zu leistenden Genugthuung herleitet. Die Reformatoren hielten die Lehre von der stellvertretenden Genugthuung des Todes Christi fest u. erklärten sich entschieden gegen die eigene Genugthuung, wie gegen die Sühnung der göttlichen Gerechtigkeit durch gute Werke. Die nachfolgenden Theologen im 17. Jahrh. betonten fast nur die juridische Seite der V., sie bezeichneten die V. als einen Proceß, wo Gott der beleidigte Theil, der sündige Mensch der Verklagte u. Christus der Bürge sei, welcher bei Gott für den Menschen eintritt; dagegen stellten die Socinianer die ethische Seite in den Vordergrund, wonach die Besserung des Menschen die Bedingung der Sündenvergebung u. der Tod Jesu eine Bestätigung der von Gott verheißenen Gnade ist. Der von Hugo Grotius etwas gemilderten Satisfactionslehre, nach welcher bei der V. nicht Gotte, sondern dem Gesetz genug gethan u. das Verdienst Christi dem Menschen nicht zugerechnet, sondern geschenkt werde, folgten viele Theologen, z.B. Storr, Reinhard, Döderlein u. A., während die rationalistischen Theologen den socinianischen Auffassungen sich zuneigten. Bei der von Schleiermacher aufgestellten Versöhnungslehre nimmt der Tod Jesu für die V. nur eine untergeordnete Stelle ein, u. es liegt das Hauptgewicht in der Lebensgemeinschaft mit Christo. Auch die der neueren Theologen, z.B. Thomasius, Hofmann, Sartorius u. A. suchen die schroffen Seiten der Kirchenlehre zu mildern, während die älteren u. neueren Philosophen in der V. die in Christo symbolisch dargestellte Selbstversöhnung der Menschheit erblicken. Vgl. Tholuck, Die Lehre von der Sünde u. dem Versöhner, Hamb. 1823, 8. Aufl. 1863; C. F. Baur, Die christliche Lehre von der V. in ihrer geschichtlichen Entwickelung, Tüb. 1838; G. Thomasius, Das Bekenntniß der lutherischen Kirche von der V., Erl. 1857; Harnack, Luthers Theologie, mit bes. Beziehung auf seine Versöhnungslehre, ebd. 1862.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 18. Altenburg 1864, S. 519-520.
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