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Seebad

[248] Seebad, in offener See genommenes Bad, besonders auch eine zu diesem Zweck eingerichtete Örtlichkeit an der Meeresküste und auf Meeresinseln. Die Wirkung des Aufenthalts in einem Seebadeort ist nur zum Teil auf das Baden im Seewasser zu beziehen; eine mindestens gleichwichtige Rolle spielen dabei die klimatischen Verhältnisse. Die Seeluft ist sehr rein, namentlich fehlen ihr fast völlig die im Binnenlande reichlich vorhandenen Mikroorganismen. Ihr sehr gleichmäßiger hohe Wassergehalt beschränkt die Wasserabgabe durch Haut und Lungen, wohingegen die Wasserausscheidung durch die Nieren etwas vermehrt wird. Der vielfach behauptete reiche Salzgehalt der Luft ist nur in unmittelbarer Nähe der Brandung vorhanden und unwichtig. Die Temperatur der Luft ist meist niedriger als im Binnenland und viel gleichmäßiger, so daß also die starken Schwankungen zwischen Tag und Nacht fast fortfallen. Die meist starke Luft bewegung steigert die Wärmeabgabe durch die Haut sehr bedeutend, damit werden auch die wärmebildenden Prozesse stark angeregt, der Appetit vermehrt sich, es erfolgt normalerweise eine Zunahme des Körpergewichts (event. nach anfänglicher Abnahme), die Anregung des Wärmeregulationsvermögens wirkt abhärtend, der Kältereiz des Seewindes wirkt stimulierend auf das Nervensystem und trägt zur Beseitigung von nervösen Erschöpfungszuständen bei. Als mächtiger Heilfaktor tritt hinzu das Bad im Seewasser, dessen Wirkung auf der Temperatur, dem Salzgehalt und der Bewegung des Wassers beruht. Der Temperatur nach gehört das S. meist zu den kalten Bädern; es beträgt die sehr gleichmäßige Meerestemperatur in den Sommermonaten in der Nordsee 14–17,7°, in der Ostsee 14,6–18,2°, im Atlantischen Ozean 20 bis 23°, im Mittelländischen Meer 22,5–27°. Die starke Kältewirkung wird leichter erträglich durch den Salzgehalt des Wassers, der in der Nordsee 3,1–3,4 Proz., in der Ostsee 0,7–1,9 Proz., im Atlantischen Ozean 3–3,7 Proz., im Mittelländischen Meer 3,2 bis 4,1 Proz. beträgt. Das Salz bleibt nach Beendung des Bades beim Abtrocknen in geringen Mengen auf der Haut und in deren Falten zurück und übt einen anhaltenden Hautreiz aus, der Wärmegefühl und Blutreichtum der Haut verursacht. Der starke Hautreiz durch Kälte und Salz wird namentlich an bestimmten Badeorten stark vermehrt durch Wellenschlag und Brandung. Diese Bewegung ist namentlich in den Bädern an der Nordsee und am Atlantischen Ozean sehr stark. Sie steigert die Wärmeentziehung und übt durch den Anprall des Wassers eine oft heftige mechanische Wirkung auf die Haut aus, ferner veranlaßt sie unter Umständen starke Muskelanstrengung von seiten des Badenden. Das S. ist die stärkste der bei Wasserkuren[248] üblichen Prozeduren. Es kräftigt die Haut und deren Reaktionsfähigkeit gegenüber Temperatureinwirkungen, steigert die Wärmeabgabe und die Wärmeproduktion, vermehrt den Appetit, erhöht also den gesamten Stoffwechsel und wirkt als kräftiges Auffrischungsmittel bei nervöser Erschlaffung. Die Seebäder finden Anwendung bei vielen Nervenerkrankungen, namentlich bei Neurasthenie (nicht zu schwerer Art), bei Skrofulose, bei Rachitis, Blutarmut, Bleichsucht, manchen Fällen von Rheumatismus (Muskelrheumatismus), zur Nachbehandlung von Krankheiten der Atmungsorgane (Lungenentzündung, Brustfellentzündung), bei Asthma, Emphysem, bei gewissen Verdauungsstörungen und bei vielen Schwächezuständen. Je nach der Individualität müssen stärkere (Nordsee-) oder schwächere (Ostsee-) Bäder gebraucht werden, weitere Abstufungen ergeben sich durch örtliche Unterschiede sowie durch Häufigkeit und Dauer der einzelnen Bäder. Nicht angebracht ist das S. bei allzu großer Schwäche, bei großer nervöser Reizbarkeit, bei fieberhaften Krankheiten, organischen Herzleiden, Arteriosklerose, Gicht, Epilepsie und manchen andern Erkrankungen. In vielen Seebädern bestehen für schwächliche Personen warme, mit Seewasser gespeiste Bäder, die in ihrer Wirkung Solbädern gleichen.

Von deutschen Nordseebädern sind zu nennen: Helgoland, Borkum, Juist, Norderney, Amrun, Langeoog, Spiekeroog, Wangeroog, Wyk auf Föhr, Westerland und Wenningstedt auf Sylt, außerdem bestehen viele kleinere deutsche Plätze. Für schonungsbedürftige Personen geeigneter und teilweise durch landschaftliche Schönheit ausgezeichnet sind die deutschen Ostseebäder, von denen Travemünde, Warnemünde, Saßnitz und Binz auf Rügen, Heringsdorf, Swinemünde, Misdroy, Zinnowitz, Zoppot und Kranz genannt seien. England hat sowohl an der Ostküste als an der Süd- und der Westküste eine sehr große Zahl guter und vielbesuchter Seebäder (Margate, Dover, Folkstone, Hastings, Insel Wight, Falmouth, die Inseln Guernsey und Jersey; Westward-Ho, Insel Man und viele andre). Die zahlreichen französischen Seebäder zeichnen sich durch die Verschiedenheit ihrer klimatischen Verhältnisse aus; am Kanal sind zu nennen: Calais, Boulogne, Dieppe, Trouville, Cherbourg, am Atlantischen Ozean Arcachon und Biarritz; am Mittelländischen Meer Hyères, Cannes, Nizza. Weltberühmt sind die Bäder Ostende (Belgien) und Scheveningen (Holland). Italien hat namentlich an der Riviera eine Anzahl schöner Seebäder; ferner sind die Inseln Capri und Ischia, am Adriatischen Meer die Insel Lido bei Venedig und Abbazia und Ragusa (beide in Österreich) zu nennen. – Die Heilmittel des Aufenthalts an der See und des Seebades zweckmäßig auszunutzen, ist die Aufgabe der Seesanatorien (Seehospize), die größtenteils für Kinder eingerichtet worden sind (Näheres s. Kinderheilstätten). In neuester Zeit sind Seereisen zu Heilzwecken in Aufnahme gekommen. In Nordamerika hat man große Dampfschiffe mit Hospitaleinrichtungen, die morgens je 1000–1500 Kinder aufnehmen, auf die hohe See hinausfahren und abends heimkehren. Reinheit der Luft, gleichmäßige Temperatur, Licht und lebhafte Luftbewegung stellen zweifellos günstige Heilfaktoren dar, denen der Mangel an Bewegung, die Gefahr der Seekrankheit und gewisse notwendige Einschränkungen der Diät als Nachteile gegenüberstehen. Um die Vorteile der Seereisen noch besser auszunutzen, als es auf den besteingerichteten Schiffen möglich ist, hat man den Bau von schwimmenden Sanatorien empfohlen. Beginnende Tuberkulose bei kräftiger Konstitution und chronische Katarrhe der Luftwege sind, lange Dauer der Reisen, Vorhandensein aller Bequemlichkeiten vorausgesetzt, zur Behandlung durch Seereisen geeignet.

Seebäder wurden schon im Altertum benutzt, als Heilmittel aber erst in neuester Zeit, zuerst in England, dann auch, nachdem Lichtenberg und Janus sie empfohlen hatten, in Deutschland. Das älteste deutsche S. ist Doberan (1793). Vgl. Beneke, Über die Wirkung des Nordseebades (Götting. 1855) und Die sanitäre Bedeutung des verlängerten Aufenthalts auf den deutschen Nordseeinseln (Norden 1884); Fromm, Bedeutung und Gebrauchsweise der Seebäder (zuletzt das. 1894); Winckler, Die Seebäder und ihre Anwendung (Berl. 1892); Lindemann, Seeklima und S. (das. 1894); Glax, Lehrbuch der Balneologie (Stuttg. 1897–1900, 2 Bde.); Hiller, Die Wirkungsweise der Seebäder (2. Aufl., Berl. 1890); Goldscheider und Jakob, Handbuch der physikalischen Therapie, 1. Teil, Bd. 1 (Leipz. 1901); Hennig, Die wissenschaftliche und praktische Bedeutung der Ostseebäder (das. 1906) und Kalte Seebäder (das. 1907); Friedrich, Die Seereisen zu Heil- und Erholungszwecken (Berl. 1906); Diem, Schwimmende Sanatorien (Wien 1907); Meyers Reisebücher: »Nordseebäder« und »Ostseebäder« (3. Aufl., Leipz. 1907). Vgl. auch Balneologie.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 18. Leipzig 1909, S. 248-249.
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