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Realismus

[648] Realismus (neulat.), ein Ausdruck von ebensolcher Vieldeutigkeit wie der entgegengesetzte des Idealismus (s. d.). Zu unterscheiden sind vor allem der praktische und der theoretische R. Ersterer bezeichnet diejenige Welt- und Lebensauffassung, die die Dinge und Menschen so nimmt, wie sie sind, statt, wie der Idealismus, in ihnen nur mehr oder weniger unvollkommene Erscheinungsformen eines Ideals zu sehen. Der Idealist strebt über die gegebene Wirklichkeit hinaus, er lebt (im Geist) in einer höhern und bessern Welt und möchte die vorhandene seinem Ideal gemäß umgestaltet sehen, ohne viel zu fragen, ob dies möglich ist oder nicht; der Realist steht ganz auf dem Boden der Wirklichkeit, die ihm genügt; er schränkt sich ein auf das in ihr Erreichbare und läßt schöne, aber unerfüllbare Wünsche und Hoffnungen fahren. (Tasso und Antonio bei Goethe.) Jener neigt leicht zur Welt- und Menschenverachtung (Pessimismus) oder zu Schwärmerei und Phantastik, dieser ist im allgemeinen Optimist, überschreitet aber auch oft das richtige Maß, indem er entweder (als praktischer Materialist) über der greifbaren Wirklichkeit die Welt der geistigen Werte ganz vernachlässigt, oder (als träger Opportunist) das hier und jetzt zufällig Wirkliche als durch die Natur der Dinge notwendig gegeben und unabänderlich betrachtet. Der theoretische R. kann wieder ein erkenntnistheoretischer oder ein metaphysischer sein. Ersterer besteht in der Annahme, daß es eine Welt von Dingen und Vorgängen außerhalb unsers wahrnehmenden und denkenden Bewußtseins gibt, auf die als Objekt sich unser Wahrnehmen und Denken bezieht, wogegen der Idealismus das Wirkliche für bloße Bewußtseinserscheinung erklärt. Der »gesunde Menschenverstand« denkt ursprünglich immer realistisch, indem er keinen Augenblick daran zweifelt, daß die Wahrnehmungsobjekte unabhängig von jedem wahrnehmenden Subjekt existieren, und weiter voraussetzt, daß die Dinge an sich gerade so beschaffen sind, wie wir sie wahrnehmen. Die zweite Voraussetzung, die den naiven R. kennzeichnet, hält jedoch der wissenschaftlichen Prüfung nicht stand, vielmehr kommen Naturwissenschaft und Psychologie in dem Ergebnis überein, daß mindestens die sinnlichen Qualitäten der Wahrnehmungsobjekte nicht den Dingen an sich selbst zugeschrieben werden dürfen, sondern erst durch deren Einwirkung auf das wahrnehmende Subjekt entstehen; und Kant hat noch weiter zu zeigen gesucht, daß auch die räumlichen und zeitlichen Bestimmungen in den subjektiven Anschauungsformen wurzeln. Der transzendentale R. stimmt deswegen mit dem transzendentalen Idealismus darin überein, daß er die Wahrnehmungswelt für eine bloße Erscheinungswelt erklärt, nur behauptet er, daß dieser eine (nicht unmittelbar wahrnehmbare) Welt transzendenter Dinge an sich zugrunde liege, mag er nun, wie der Agnostizismus, die letztere für schlechterdings unerkennbar erklären, oder, wie der naturwissenschaftliche R., sie als eine Welt bewegter Massenteilchen auffassen, oder, wie der spekulative R., die Bestimmung des Wesens der Dinge an sich für eine nur durch philosophische Spekulation zu lösende Aufgabe ansehen. Der erkenntnistheoretische R. kann daher in metaphysischer Hinsicht ebensowohl Idealismus als R. sein, je nach der Annahme, die er über das Wesen des transzendenten Weltgrundes macht. Der metaphysische R. setzt voraus, daß der Welt eine oder mehrere Wesenheiten (Substanzen) zugrunde liegen, die, mit blinder Notwendigkeit den immanenten Gesetzen ihrer Natur gemäß wirkend, den Weltlauf hervorbringen, wogegen der metaphysische Idealismus die Wirklichkeit als die realisierte Ideenwelt einer absoluten weltsetzenden Vernunft betrachtet. Jener kennt keinen andern Zusammenhang der Dinge als den äußern der Ursachen und Wirkungen, dieser faßt den Weltzusammenhang als einen innern, logischen oder teleologischen auf. Der metaphysische R. kann die Form des Materialismus oder Spiritualismus, des Monismus, Dualismus oder Pluralismus annehmen. In der Neuzeit brachten ihn besonders Herbart und Schopenhauer im Gegensatz zu dem einseitigen Idealismus Fichtes, Schellings und Hegels zur Geltung. Eine Versöhnung beider Extreme erstrebt der hauptsächlich durch Lotze entwickelte Realidealismus oder Idealrealismus, der zwar alles in der Welt mit kausaler Notwendigkeit aus den Wechselwirkungen der Dinge hervorgehen läßt, aber dabei annimmt, daß eben durch diese Wechselwirkungen ein dem Ganzen zugrunde liegender Sinn und Plan realisiert werde, und der Panpsychismus E. v. Hartmanns, der die Welt aus dem Zusammenwirken des (Welt-) Willens und der (Welt-) Vernunft ableitet. – Im Mittelalter bezeichnete der Gegensatz von Nominalismus und R. die Leugnung, bez. Anerkennung der Realität der »Universalien«, d. h. der allgemeinen Begriffe (s. Nominalismus). Vgl. v. Kirchmann, Über das Prinzip des R. (Leipz. 1875); E. v. Hartmann, Kritische Grundlegung des transzendentalen R. (3. Aufl., Berl. 1885); Maydorn, Wesen und Bedeutung des modernen R. (Leipz. 1899); Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis (2. Aufl., Tübing. 1904).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 16. Leipzig 1908, S. 648.
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