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Freddy Litten

(Frederick S. Litten)

Die Carathéodory-Nachfolge in München 1938-1944

[ursprünglich erschienen in Centaurus. International Magazine of the History of Mathematics, Science, and Technology, Band 37, Heft 2, 1994, S. 154-172. Bei Übernahme von Informationen bzw. Interpretationen aus diesem Beitrag bitte vorzugsweise die gedruckte Version zitieren, oder diese unter Angabe von Autor, Titel und vollständigem URL.]

Die Geschichte des Mathematischen Seminars der Universität München in der Zeit des Nationalsozialismus gehört zu den vielen noch unzureichend erforschten Gebieten der Wissenschafts- und Universitätsgeschichte. Entgegen der Meinung eines damaligen Studenten [Heinhold, 1984, 186] führte die nationalsozialistische Machtergreifung durchaus zu Unruhe auch bei den Mathematikern. Zwar gab es am Mathematischen Seminar wohl keine internen politischen Auseinandersetzungen, jedenfalls nicht unter den Professoren, Dozenten und Assistenten ‒ nur ein Dozent war Parteimitglied (Paul Riebesell), die Assistenten Fritz Lettenmeyer und Hermann Boerner waren in der SA ‒, doch blieb auch das Seminar nicht von den Auswirkungen des Zeitgeschehens verschont. Der Dozent Salomon Bochner ‒ ein "gräßlicher ostgalizischer Jude", so noch 10 Jahre später ein Vertreter des Nationalsozialistischen Deutschen Dozentenbundes [Institut für Zeitgeschichte, MA 116/4 Carathéodory]1 ‒ emigrierte wohlweislich bereits im März 1933 nach England und dann in die USA; der Emeritus Alfred Pringsheim wurde solange schikaniert, bis auch er schließlich 1939 in die Schweiz ging [Perron, 1948]. Der persönliche Ordinarius Friedrich Hartogs, geboren 1874 und jüdischer Abstammung, wurde zum 1. Januar 1936 aufgrund des Reichsbürgergesetzes von 1935 vorzeitig in den Ruhestand versetzt und nahm sich 1943 das Leben. Der Ordinarius Oskar Perron, scharf gegen die Nationalsozialisten eingestellt, lag vor allem während des Zweiten Weltkriegs in einer Art Dauerfehde mit dem Physiker und zeitweiligen Dekan der Naturwissenschaftlichen Fakultät, Wilhelm Müller [vgl. Litten, 1994].2

Während aber die obigen Ereignisse sehr verstreut und kurz bereits in der Literatur Erwähnung fanden, blieben die Diskussionen um die Nachfolge des Ordinarius Constantin Carathéodory, die einige Parallelen zu denen um die Sommerfeld-Nachfolge in der theoretischen Physik aufweisen [vgl. z. B. Beyerchen, 1982, 210ff.], bisher unbekannt. Anhand der entsprechenden Akten der Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität München und des Bayerischen Kultusministeriums soll hier ein Abriß dieser Vorkommnisse gegeben werden.

I

Constantin Carathéodory, den Heinrich Behnke 1973 als einen der bedeutenden Mathematiker dieses Jahrhunderts bezeichnete [1974, 151],3 hatte 1924 den Lehrstuhl Ferdinand Lindemanns an der Universität München übernommen.4 Als sich die altersbedingte Emeritierung Carathéodorys zum Wintersemester 1938 abzeichnete, waren sich zumindest die Mathematiker der Bedeutung bewußt, den prestigeträchtigen Lehrstuhl mit einem ähnlich qualifizierten Nachfolger zu besetzen. Am 15. Juli 1938 teilte der Dekan der Naturwissenschaftlichen Fakultät, der Botaniker Friedrich von Faber, dem Rektor der Universität München den Vorschlag der Fakultät mit: An erster Stelle Gustav Herglotz und Bartel van der Waerden, an zweiter Stelle Carl Ludwig Siegel.5 Diese Vorschläge gingen neben Carathéodory und Perron auch auf den Mathematiker Heinrich Tietze sowie die Physiker Arnold Sommerfeld und Walther Gerlach zurück [UAM, NC, 13.7.1938]. Aus den angeschlossenen Beurteilungen seien folgende Passagen zitiert:

"Sowohl innerhalb der verschiedensten Gebiete der Mathematik als auch in ihren Anwendungen auf theoretische Physik und theoretische Astronomie besitzt Herglotz [1881 geboren, 1909 o. Professor in Leipzig, 1925 o. Professor in Göttingen] eine tief in das Wesen des Gegenstandes und seine Feinheiten dringende Einsicht, wie sie in diesem Ausmass nur wenigen Mathematikern gegeben ist."6

"Diese ungewöhnlich rasche Karrière [1903 geboren, 1928 o. Professor in Groningen, 1931 o. Professor in Leipzig] zeigt, dass van der Waerden schon als ganz junger Mann, der kaum wissenschaftlich zu arbeiten begonnen hatte, von den Fachgenossen als der kommende Stern erster Grösse eingeschätzt wurde. Heute, nachdem genügend Zeit seit dem ersten Aufflackern dieses Sternes am mathematischen Himmel verflossen ist, um ein definitives Urteil zu fällen, kann man wohl sagen, dass die hochgespannten Erwartungen, die man daran knüpfte, in reichstem Masse erfüllt wurden."

"Wenn wir ihn [Siegel, geboren 1896, 1922 o. Professor in Frankfurt, 1938 o. Professor in Göttingen] an zweiter Stelle nennen, so darf darin keine Abstufung des wissenschaftlichen Ranges erblickt werden; es bedeutet vielmehr nur, dass die andern für die speziellen Münchener Bedürfnisse, insbesondere wegen der hier bestehenden engen Verbindung zwischen Mathematik und Physik uns einen Grad begehrenswerter erscheinen. Rein wissenschaftlich ist aber Siegel ebenfalls ganz groß." [BayHStA, 15.7.1938]

Von Faber hatte offensichtlich unkommentiert die Äußerungen der Mathematiker und Physiker weitergegeben. Die Dozentenschaft der Universität München, in der Person ihres damaligen Leiters, des Astronomen Bruno Thüring,7 sah sich daher veranlaßt, den Vorschlag der Fakultät "nach der menschlich-politischen Seite hin" zu ergänzen (und damit von Faber die richtige Linie zu zeigen): Herglotz erfreue sich wissenschaftliche eines guten Rufes, gehöre (aber) weder der Partei noch einer ihrer Gliederungen an und sei weder als offener Gegner noch als Anhänger zu bezeichnen. "Er ist eben einer von den unendlich vielen politisch uninteressierten Hochschullehrern, die ihre Pflicht für erfüllt halten, wenn sie der nach ihrer Ansicht internationalen Wissenschaft dienen." Van der Waerden gelte als "sehr guter, vielseitiger Mathematiker" mit gutem Charakter. Allerdings müßten "in die Aufrichtigkeit seines Wesens berechtigte Zweifel gesetzt werden." Abgesehen davon, daß er niederländischer Staatsangehöriger sei, im Fragebogen aber die deutsche Staatsangehörigkeit angegeben habe, sei er "ausgesprochen philosemitisch eingestellt und [halte] den Antisemitismus für überflüssig." Er habe sich für den Verbleib des Religionswissenschaftlers Joachim Wach in der Fakultät in Leipzig ausgesprochen und auch zuviel Kontakt mit Juden, zudem zeige er keinerlei Absicht, die politische Entwicklung zu verstehen. "Er gehört zu jenem Typ des Hochschullehrers, den wir heute nicht mehr sehen wollen." Siegel schließlich sei zwar einer der fachlich anerkanntesten Mathematiker Deutschlands, aber viel zu judenfreundlich. Nach Göttingen habe man ihn berufen, "um ihn von seinem dauernden jüdischen Umgang in Frankfurt loszubekommen." "Völlig weltfremd und instinktlos" verkehre er nicht nur mit den jüdischen Mathematikern Ernst Hellinger und Max Dehn, sondern habe sogar vorgeschlagen, diese beiden wieder am mathematischen Kolloquium teilnehmen zu lassen. "Alles in allem, ein Mann, wie er unbrauchbarer für einen Ruf nach München nicht gedacht werden kann."

Da also van der Waerden und Siegel politisch "untragbar" seien, bliebe Herglotz, bei dem man aber auch "sämtliche Augen zudrücken" müsse. Abschließend meinte Thüring, die Fakultät solle noch ein oder zwei Herren benennen, die nicht so offensichtlich Bedenken hervorrufen würden; wenigstens sei indes bei Herglotz ein Vorteil, daß bei seinem Alter in acht Jahren ein "geeigneter Nachfolger" unter den Jüngeren berufen werden könne [BayHStA].8

Der Aufforderung des Rektors, einen weiteren Mann zu benennen, kamen die Münchener Mathematiker (Carathéodory, Perron, Tietze) schnell nach: bereits am 8. September ergänzten sie in einem Schreiben an den Dekan die Liste durch Erich Hecke [geboren 1887, 1916 o. Professor in Basel, 1918 Göttingen, 1919 Hamburg], der "zu den ersten Meistern auf dem Gebiet der Zahlentheorie zu zählen" sei. Besonders erwähnenswert fanden sie, daß Hecke erst im vergangenen Jahr eine Vortragsreise in den USA durchgeführt habe [UAM, NC].

Thüring konnte diesem Vorschlag nichts abgewinnen. Am 17. September schrieb er an den Dekan, daß "die Herren Fachvertreter ... jedenfalls deutlich genug ihre Unfähigkeit erwiesen [haben], Vorschläge zu machen, die den Notwendigkeiten des Dritten Reiches gerecht werden."9 Thüring sprach sich jetzt für die Benennung des Freiburger (Schweiz) Professors Anton Huber aus [UAM, NC].

Huber selbst aber hatte auf einer Tagung erfahren, daß er nach Wien berufen werden solle. Bezeichnend ist seine Einschätzung der Münchener Lage:

"Ich kann ja dann, wenn Sie [von Faber] und Herr Reg. Rat. [Wilhelm] Führer10 überhaupt an dieser Absicht festhalten sollten, bei der Besetzung des Carath.-Lehrstuhles, natürlich nach erfolgter Vertauschung: Car. « Per.[ron] « Tie.[tze] « Hu.[ber], viel ernstlicher als gegenwärtig in Betracht gezogen werden als Nachfolger von Tie. denn bei allem Respekt vor den von H. Thüring verfochtenen Säuberungsmassnahmen halte ich die oben angedeutete Vertauschung, soweit ich die Lage beurteilen kann, für zweckmässiger, weil dann die Herren P. und T. nicht mehr im Stande wären, H. Caratheodorys Prestige vorzuschützen, während so ja doch an der Sache selber im Grunde nichts geändert würde." [UAM, NC, 20.9.1938]11

Die Fronten hatten sich in der Form verhärtet, die Huber erkannt hatte ‒ die Mathematiker brachten das Prestige des Lehrstuhls Carathéodory vor, um einen bedeutenden Mathematiker zu berufen, der aber, und das war mit einiger Sicherheit auch Absicht, kein Interesse an der Partei und am Nationalsozialismus hatte. Dagegen sperrte sich natürlich die Dozentenschaft. So blieb auch dem Kultusministerium nichts anderes übrig, als eine Anfrage des Reichswissenschaftsministeriums vom 11. November 1938 mit einer Erklärung für die Verzögerung zu beantworten, ohne diesem Hoffnung auf eine Lösung machen zu können [BayHStA].

Erst im Januar 1939 bewegte sich wieder etwas.12 Von Faber schrieb am 9. jenes Monats an Ludwig Bieberbach, Theodor Vahlen und Alfred Klose (die Auswahl war politisch bezeichnend) und bat um Gutachten über Karl Strubecker. Vahlen antwortete bereits am 14. Januar mit einem kurzen, aber positiven Resümee. Sozusagen als Nachtrag bat von Faber dann am 26. Januar Bieberbach und Vahlen auch um ein Gutachten über Klose. Am 6. Februar sprach sich Vahlen heftig gegen eine Berufung Kloses nach München aus ‒ dieser müsse, als einer der wenigen echten angewandten Mathematiker, unbedingt in Berlin bleiben. Auch Bieberbach meinte am 7. Februar, daß Klose eher sich an einem Institut für angewandte Mathematik entfalten könne, während er wissenschaftlich ungefähr gleichwertig mit Strubecker und damit ebenfalls für den Münchener Lehrstuhl geeignet sei. Klose selbst lieferte am 1. Februar ein positives Gutachten über Strubecker, ohne aber dessen Fachgebiet (Geometrie) genau zu kennen. Schließlich äußerte sich noch der Direktor der Münchener Sternwarte, Wilhelm Rabe, am 8. Februar anerkennend über Klose.

Am 27. Februar 1939 beschäftigte sich die Fakultät auf ihrer Sitzung auch mit dem Problem der Carathéodory-Nachfolge. Dekan von Faber erklärte, daß der Vorschlag der Fachvertreter für ihn und den Rektor unannehmbar sei und daß die Dozentenschaft sich für Klose und Strubecker ausspreche; Perron wiederum nahm gegen den Vorschlag der Dozentenschaft Stellung [UAM, OC-N 1d]. Inzwischen hatte es am 24. Februar wiederum eine dringliche Anfrage des Reichswissenschaftsministeriums beim Kultusministerium gegeben. Am 1. März wurde die Antwort verfaßt mit der Bitte um weitere vier Wochen Geduld; bis dahin, so die Aussage des Rektors, sei die Angelegenheit wohl geklärt [BayHStA].

Tatsächlich konnte von Faber am 13. März dem Rektor eine neue Vorschlagsliste übersenden: An erster Stelle stand nun allein Herglotz; an zweiter Strubecker [geboren 1904, 1938 Vertretung einer Professur an der TH Wien], der zwar nicht den Ruf Herglotz' genieße, aber auf dem Gebiet der Geometrie der bekannteste deutsche Forscher der jüngeren Generation sei (diese Aussage stammte aus dem Gutachten Bieberbachs, der sie wiederum von Ernst Weiss aus Bonn hatte) [UAM, NC]. Die Fassung in den Akten des Kultusministeriums enthält noch den Nachsatz, daß sich die Fakultät dem Vorschlag der Fachvertreter (van der Waerden, Siegel, Hecke) nicht anschließen könne, da sie politisch untragbar seien [BayHStA]. Im Nachgang wollte von Faber noch Klose an dritter Stelle vorschlagen, doch scheint dieses Schreiben vom 22. März nicht ausgelaufen zu sein. Der Grund dafür dürfte ein vernichtendes Gutachten Perrons über Klose vom 24. März gewesen sein: Anhand zweier Gutachten von Ludwig Prandtl (Göttingen) und Friedrich Pfeiffer (Stuttgart) zeigte Perron auf, daß diese Klose gerade auf den Gebieten der angewandten Mathematik für einen "besonders ahnungslosen Ignoranten" hielten. "Eine Methode, die es ermöglicht und dazu nötigt, dass als Nachfolger von Carathéodory solche Nichtskönner überhaupt in Erwägung gezogen werden, und die damit unser wissenschaftliches Ansehen im höchsten Grade gefährdet, scheint mir reformbedürftig ...", so Perron.13

Klose war damit aus dem Rennen;14 eine Aktennotiz des Rektors vom 26. April 1939 erwähnt die Zustimmung des Senats und der Dozentenschaft zur Berufung Herglotz'. Am 5. Mai teilte das Kultusministerium dem Reichsministerium in Kurzfassung die Vorgänge und den Kompromiß (Herglotz, Strubecker) mit und bat um die Genehmigung, die Berufungsverhandlungen mit Herglotz führen zu können. Es ergab sich jedoch bald das Problem, daß Herglotz gegenüber dem Reichswissenschaftsministerium verzögerte; offenbar spielte die Beschaffung einer Wohnung in München eine Rolle.15 Dazu kam, daß das Reichswissenschaftsministerium selbst am 29. September 1939 Herglotz mitteilte, daß seine Berufung nach München vorläufig zurückgestellt sei.

Zu einer Wendung schien es am 8. Februar 1940 zu kommen ‒ das Reichswissenschaftsministerium teilte unter diesem Datum dem Bayerischen Kultusministerium mit, daß es Herglotz berufen dürfe. In München handelte man schnell und fragte am 21. Februar bei Herglotz an. Dieser zögerte aber immer noch [BayHStA]. Da Carathéodory auch im Sommersemester 1940 noch Vorlesungen hielt, sich also praktisch selbst vertrat, hielt die Fakultät die Angelegenheit gegenüber dem Rektor und damit dem Kultusministerium nicht für dringlich (dahinter mag die Befürchtung gesteckt haben, sich wieder mit der ganzen Angelegenheit auseinandersetzen zu müssen) [UAM, NC]. Das Reichswissenschaftsministerium drängte dagegen zur Eile, am 11. April und am 13. August 1940 [BayHStA].

Gegen Ende des Jahres endlich, nachdem sich Herglotz' Einstellung zur Wohnungsfrage nicht geändert hatte, ging vom Kultusministerium die Anfrage an den Rektor der Universität, ob denn noch weiter gewartet werden solle. Dekan von Faber teilte daraufhin dem Rektor mit, daß ein neuer Berufungsvorschlag geplant sei. (Strubecker wird nicht mehr erwähnt.) Am 27. November 1940 schrieb auch das Reichswissenschaftsministerium an das Bayerische Kultusministerium, daß eine Berufung Herglotz nicht mehr in Frage käme [BayHStA]. Die Suche und die Probleme begannen von neuem.

II

Obwohl von Faber einen neuen Berufungsvorschlag in Aussicht gestellt hatte, kam es vorerst nicht dazu. Der Grund war wiederum, wie das Kultusministerium dem Reichsministerium auf Anfrage vom 22. Januar 1941 mitteilte, daß sich Fakultät und Dozentenschaft nicht einigen konnten [BayHStA, 12.2.1941]. Am 24. Januar benannten die Münchener Mathematiker einige Personen, "die zwar den früher Genannten an wissenschaftlicher Bedeutung nicht gleichkommen, jedoch für ein Ordinariat an der Universität München in Betracht kommen können." Dabei handelte es sich um Heinrich Behnke (geboren 1898, 1927 o. Professor in Münster/Westfalen), der "einer der besten Kenner der Theorie der analytischen Funktionen von mehreren Veränderlichen" sei und zudem "einer der erfolgreichsten Lehrer, die wir in Deutschland haben ..."; Hellmuth Kneser (1898 geboren, 1925 o. Professor in Greifswald, 1937 in Tübingen), "ein vielseitiger, tief veranlagter Forscher", dessen Arbeiten zur Theorie der Funktionen mehrerer komplexer Veränderlicher besonders zu erwähnen seien; Franz Rellich (1906 geboren, 1942 o. Professor in Dresden), ein "ideen- und erfolgreicher Forscher, von dem gewiß noch manche wertvolle Bereicherung der Wissenschaft zu erwarten ist"; und schließlich Herbert Seifert (geboren 1907, 1935 Vertretung einer Professur in Heidelberg, 1937 o. Professor Heidelberg), dessen topologische Arbeiten ihn für den Münchener Lehrstuhl in Frage kommen ließen [UAM, NC].

Diesem Vorschlag wäre insofern mehr Aussicht auf Erfolg beschieden gewesen, als Bruno Thüring, der Hauptgegner der Mathematiker, inzwischen o. Professor für Astronomie an der Universität Wien geworden und dadurch doch etwas abseits vom Schuß war. Seinen Posten als Dozentenschaftsleiter hatte zu jener Zeit der Botaniker Ernst Bergdolt, Parteimitglied seit 1922, inne, der aber etwas "weicher" erscheint als Thüring und zudem nicht direkt mit der Mathematik zu tun hatte.16 Dafür war in gewissem Sinne der eingangs bereits erwähnte Wilhelm Müller als Hauptvertreter der "Deutschen Physik" in München an Thürings Stelle getreten. Müller mischte sich nun auch gleich ein, indem er am 27. Januar 1941 dem Dekan einen Mathematik-Dozenten der TH München, Max Steck, benannte, der sich besonders durch seine Haltung gegen Einstein empfehle.17

Nachdem von Faber am 21. Februar Perron mitgeteilt hatte, daß er bald eine Sitzung zur Carathéodory-Nachfolge wünsche, sandte er am folgenden Tag Bitten um Gutachten über Hecke und van der Waerden (gemeinsam an erster Stelle), Behnke (an zweiter Stelle) und H. Kneser (an dritter Stelle) an Wilhelm Wirtinger (Wien), Konrad Knopp (Tübingen) und Otto Haupt (Erlangen). Mehreres ist daran auffällig: zum einen werden plötzlich wieder die Namen van der Waerden und Hecke genannt; zum zweiten gehören die Adressaten nicht zum Kreis der stark nationalsozialistischen Mathematiker, wie es noch bei von Fabers Gutachtenanforderung vom 9. Januar 1939 der Fall gewesen war; zum dritten findet sich eine handschriftliche Notiz auf dem Briefentwurf, daß von der Dozentenschaft Steck vorgeschlagen würde.

Knopp antwortete als erster am 26. Februar: Hecke und van der Waerden seien erstklassig, die beiden anderen immerhin von hohem Rang, wobei dies keine geringe Wertschätzung bedeute, habe er doch selbst Knesers Berufung nach Tübingen angeregt. Auffällig ist indes sein Schlußsatz: "Mit diesen Feststellungen ist aber nichts darüber gesagt, ob nicht auch andere Mathematiker als die genannten mit gleichem Recht für die Besetzung des in Rede stehenden Lehrstuhls in Betracht gezogen werden könnten."

Wirtingers Antwort datiert auf den folgenden Tag; er äußert sich recht vorsichtig über alle, verweist in Sachen Hecke und van der Waerden auf Perrons Sachverstand, scheint aber Kneser zu bevorzugen.

Haupt schließlich beurteilte am 1. März 1941 alle vier positiv, ohne eine spezielle Empfehlung abzugeben.

Inzwischen war aber Müller ebenfalls nicht untätig geblieben und hatte sich ein positives Gutachten über Steck von Theodor Vahlen besorgt. Auch nahm er an der Kommissionssitzung am 7. März 1941 teil, zusammen mit Perron, Tietze, Rabe, Eduard Rüchardt (Physik) und Bergdolt. Carathéodory hatte man vergessen einzuladen. Die Sitzung brachte offensichtlich kein Ergebnis, denn am 1. April teilte der Dekan dem Rektor mit, daß zur Zeit kein neuer Berufungsvorschlag möglich sei und einstweilen der eigentlich im Ruhestand befindliche Friedrich von Dalwigk Vorlesungen halten solle.

Jetzt verzögerte sich die Angelegenheit wiederum, da von Faber im April 1941 Prorektor wurde, sein Nachfolger als Dekan wurde Müller. Dieser schrieb am 2. Juli an Paul Koebe in Leipzig und bat um Nennung von Namen.18 Koebe antwortete am 25. Juli und empfahl: Eberhard Hopf (Leipzig), Konrad Knopp (Tübingen), Gustav Doetsch (Freiburg/Breisgau) und Erich Kähler (Königsberg). Dieser Brief traf am 28. Juli in Dekanat ein; am gleichen Tag fand eine Fakultätssitzung statt, in der sich Müller überraschend für die Umwandlung des Carathéodory-Lehrstuhls in einen für angewandte Mathematik aussprach [UA, OC-N 1d].19

Müllers Pläne erfuhren aber bald darauf einen Dämpfer. Am 1. August 1941 schrieb Wilhelm Führer an von Faber (er hielt ihn noch für den Dekan), daß er nicht dafür sei, Steck auf die Liste zu setzen, dieser würde seinen Weg noch machen. Dafür empfahl er Oswald Teichmüller und H. Kneser; beide gehörten bestimmt zu den allerbesten in Deutschland, daher könnten die "alten Wissenschaftler" nichts gegen sie sagen. Teichmüller würde in Göttingen (Nachfolge Siegel) und Berlin (Nachfolge Erhard Schmidt) gewünscht und habe "außerdem den Vorzug, daß er alter Nazi ist und frei von jedem Autoritätsgefühl." Kneser "wird ebenfalls als der beste Mathematiker des Mittelalters angesehen, ist Parteigenosse und aktiver SA-Mann." [UAM, NC]

Mittlerweile drängte nicht nur, wie üblich, das Reichswissenschaftsministerium [BayHStA, 27.8.1941], sondern auch die Münchener Mathematiker: Im März hätten sie einen Vorschlag ausgearbeitet, aber seitdem habe keine Sitzung stattgefunden [UAM, NC, 10.8.1941].

Müller nahm sich nun Führers Vorschlag zu Herzen und bat am 19. September Bieberbach und am 24. September Koebe um Auskunft zu Teichmüller.20 Am 3. November 1941 sandte er einen Zwischenbericht an den Rektor, in dem Kneser, Teichmüller und Behnke genannt werden; erstaunlicherweise taucht in einer Abschrift auch Strubecker wieder auf, allerdings als wohl nicht geeignet.

Endlich fand am 19. November 1941 wieder eine Kommissionssitzung statt, an der neben Müller, Perron, Carathéodory, Tietze, Rabe, Rüchardt und Bergdolt auch von Faber teilnahm. Am Tag darauf sandte Müller einen Bericht an den Rektor, der dann allerdings "im Einvernehmen mit der Dozentenschaft" in etwas abgeänderter Form vorgelegt wurde.21 Im ursprünglichen Bericht (über den Leiter der Dozentenschaft an den Rektor, was letzterer überhaupt nicht guthieß) wurden die Mathematiker "nach rein formal-mathematischen Gesichtspunkte[n]" gereiht: 1. Hecke, 2. van der Waerden, 3. H. Kneser, 4. Behnke. "Als weiterer Kandidat ist nach einem Vorschlag von namhafter Seite außerhalb der Fakultät genannt worden: 5. Oswald Teichmüller, Berlin." Zu Hecke und van der Waerden ergaben die Beurteilungen nichts neues, jedoch "[a]uf Grund einer Auskunft über die politische Haltung muß das Dekanat beide Kandidaten ... als für die hiesigen Verhältnisse untragbar ablehnen." Bei Kneser findet sich die Bemerkung, daß "[a]uch seine positive Einstellung zum Nationalsozialismus und seine aktive Mitgliedschaft bei der S.A." für ihn sprächen. Die Beurteilung Behnkes ist relativ knapp, dafür ist die Teichmüllers (geboren 1913, 1939 Dozent an der Universität Berlin) umso ausführlicher. Es wird Bezug genommen auf ein sehr anerkennendes Gutachten Koebes, aber auch auf ein negatives Gutachten der Münchener Mathematiker, speziell Carathéodorys, das die Unvollkommenheit der Beweisführung in einer Abhandlung Teichmüllers beklagend22 "dem aufstrebenden Talent und dem Phantasie- und Ideenreichtum Teichmüller's nicht gerecht zu werden" schiene. "Das Dekanat bittet, die beiden Herren H. Kneser ‒ Tübingen und O. Teichmüller ‒ Berlin in engere Wahl für die Berufung auf den in Frage stehenden Lehrstuhl zu berücksichtigen."

Wie erwähnt hatte die Dozentenschaft etwas gegen dieses Schreiben einzuwenden. Bergdolt beschwerte sich am 4. Januar 1942 beim Rektor, daß Teichmüller nicht von außerhalb der Fakultät namhaft gemacht worden sei, sondern auch von innerhalb, insbesondere von ihm selbst. Außerdem sollten die Kandidaten wenigstens in alphabetischer Reihenfolge genannt werden. Also änderte Müller sein Schreiben vom 20. November 1941 um (unter dem gleichen Datum) und berücksichtigte die alphabetische Reihenfolge. Außerdem fügte er ein, daß Hecke und van der Waerden "auf besonderen Wunsch der mathematischen Fachvertreter mit aufgenommen sind, obwohl seitens des Dekans und der Dozentenschaft mehrere Bedenken geäußert wurden." Es blieb dabei, daß das Dekanat Kneser oder Teichmüller wünschte.

Um die Sache aber nicht zu einfach werden zu lassen, reichte Müller am 3. Dezember 1941 noch eine Denkschrift beim Rektor ein, in der er für die Umwandlung des Carathéodory-Lehrstuhls in einen solchen für angewandte Mathematik plädierte und dabei auf den entsprechenden Göttinger Lehrstuhl verwies, der "besonders auf die Initiative des großen und weitblickenden Mathematikers Felix Klein zurückgeht." Auf Rückfrage des Rektors führte Müller Robert Sauer, Walter Tollmien und Friedrich-Adolf Willers als geeignete angewandte Mathematiker auf.

Die Dozentenschaft, von Führer offenbar angeregt, setzte sich nun ganz für Teichmüller ein. Am 7. März 1942 ging ein fünfseitiges Schreiben an den Rektor, in dem Teichmüller befürwortet wurde, gerade auch als Gegengewicht zu den "zwar wissenschaftlich gut, politisch aber negativ zu bewertenden Mathematiker[n] Perron und Tietze". Dann wird Bezug genommen auf ein in den Akten nicht befindliches Gutachten Perrons, in dem dieser den Altparteigenossen Teichmüller völlig niedermache (s.u.). Als Gegenbeweis werden Gutachten Bieberbachs, Koebes und Helmut Hasses aufgeboten. Van der Waerden sei zu judenfreundlich (das alte Dozentenschaftsgutachten neu aufgewärmt); Hecke Pazifist, außerdem sei bezeichnend, "daß er bei Berufungen von Mathematikern nur solche empfiehlt, die entweder schon mit den Gesetzen des neuen Staates in Konflikt gekommen sind, oder ihm doch mindestens feindlich gegenüberstehen". Behnke sei "wie sehr viele Mathematiker, ausgesprochener Individualist" und in erster Ehe mit einer Jüdin verheiratet gewesen ‒ zwar im Grunde unpolitisch, aber dennoch nicht zu befürworten. Kneser schließlich sei noch, abgesehen von Teichmüller, verhältnismäßig am besten: er werde für unpolitisch gehalten, habe aber vor 1933 dem liberal-demokratischen Lager nahegestanden, sein Einsatz nach 1933 erwecke den Eindruck einer Überkompensation für frühere "falsche" Anschauungen; immerhin könne man aber jetzt annehmen, "daß er den nat.soz. Staat innerlich ehrlich bejaht...". Seine Berufung könne an zweiter Stelle befürwortet werden.

Am 12. März 1942 fand eine Senatssitzung statt, auf der auch die Frage der Carathéodory-Nachfolge behandelt wurde. Es muß sich tatsächlich um eine "sehr eingehende Aussprache" gehandelt haben, denn in keinem Senatsprotokoll der Kriegsjahre sind zwei Seiten einem Thema gewidmet [UA, Sen. 326/6]. Zuerst wurden die Berichte des Dekanats vom 20. November 1941 und des Dozentenschaftsleiters vom 7. März 1942 verlesen, wobei sich herausstellte, daß letzterer Bericht einen auf den 10. Februar 1942 datierten ersetzte, den der Dozentenschaftsleiter aus den Akten entfernt hatte. Ebenfalls wurde festgestellt, daß die in jenem Bericht "zitierten" Ausführungen Perrons und Tietzes über Teichmüller in deren Gutachten so nicht in allen Punkten enthalten waren.23 Dann kam man zu dem Schluß, daß eigentlich nur Bieberbach sich entschieden für Teichmüller ausgesprochen hatte, Koebe und Hasse hätten sich so vorsichtig ausgedrückt, daß man darauf keine Berufung nach München gründen könne. War damit Teichmüller aus dem Rennen, so kamen als nächstes Hecke, van der Waerden und Behnke an die Reihe. Der Rektor, Walther Wüst (zugleich Kurator des SS-Ahnenerbe), lehnte es ab, eine Vorschlagsliste mit drei politisch Belasteten an das Ministerium weiterzureichen, besonders da die Fakultät am 13. März 1939 bereits den Vorschlag van der Waerden und Hecke abgelehnt habe. Das Ergebnis war, daß die Fakultät einen neuen Dreiervorschlag erstellen solle, in den aber weder Teichmüller noch irgendwelche politisch unzuverlässigen Kandidaten aufgenommen werden dürften. Nur in Bezug auf Teichmüller hatten Müller und Bergdolt Aussetzungen an diesem Beschluß. Im Anschluß beriet man noch die Denkschrift Müllers zur angewandten Mathematik und verwies sie zur näheren Behandlung zurück an die Fakultät.

Am 26. März 1942 teilte der Rektor offiziell dem Dekan mit, daß ein neuer Vorschlag abzugeben sei; am 29. April zog Müller seinen Bericht vom 20. November 1941 zurück; am gleichen Tag wurde in der Fakultätssitzung erklärt, daß van der Waerden und Hecke unannehmbar seien [UAM, NC]. Runde Drei begann.

III

Carathéodory, Perron und Tietze richteten am 12. Juni 1942 ein Schreiben an die Berufungskommission, in dem sie als Ergänzung zu Behnke und Kneser, die sie gemeinsam an erste Stelle setzten, an zweiter Stelle Wilhelm Süss und an dritter Stelle Eberhard Hopf nannten.24 Süss (geboren 1895, 1922-1928 Professor in Kagoshima/Japan, 1934 o. Professor in Freiburg/Breisgau) sei ein vorzüglicher Mathematiker mit Spezialgebiet Geometrie, Vorsitzender der Deutschen Mathematiker-Vereinigung und Rektor der Universität Freiburg. E. Hopf (geboren 1902, 1932 Assistant Professor am Massachusetts Institute of Technology/USA, 1936 o. Professor in Leipzig, seit 1942 dienstverpflichtet an die Deutsche Forschungsanstalt für Segelflug in Ainring/Oberbayern) sei ein vielseitiger Mathematiker z. B. auf den Gebieten der partiellen Differentialgleichungen und der Ergodentheorie, habe aber auch zum Problem des Strahlungsgleichgewichts von Sternatmosphären mathematische Lösungen beigetragen.

Eine für den 22. Juni geplante erweiterte Kommissionssitzung ‒ auf Wunsch Tietzes sollte auch der physikalische Chemiker Klaus Clusius beigezogen werden [UAM, OC-N 1d, 15.6.1942] ‒ wurde abgesagt; schließlich fand eine normale Sitzung am 14. Juli 1942 unter Beteiligung der drei Mathematiker, Rabes, des Prodekans und bald darauf neuen Dekans Karl Beurlen (Geologie),25 des Botanikers Reinhard Orth als Vertreter Bergdolts für die Dozentenschaft und von Fabers statt. Dabei schlugen die Mathematiker Kneser an erster, Behnke an zweiter und Süss und Hopf gemeinsam an dritter Stelle vor. Orth meinte, daß bei Behnke gewisse Bedenken in politisch-weltanschaulicher Hinsicht geltend gemacht werden müßten, Tietze hielt die vier Genannten für fachlich ziemlich gleich gut, weshalb Beurlen vorschlug, Behnke an die vierte Stelle zu setzen und, da nur ein Dreiervorschlag abzugeben sei, ihn ganz herauszulassen. Nach einiger Diskussion verständigte man sich auf diese Lösung. Zur Frage der angewandten Mathematik wurden die Fachvertreter gebeten, einen Antrag zu formulieren.

Am 16. Juli legten Carathéodory, Perron und Tietze den Dreiervorschlag Kneser ‒ Süss ‒ Hopf dem Dekanat vor; er ging am 27. Juli an das Rektorat mit der Bemerkung, die Dozentenschaft habe keine Einwände [UAM, NC]. Dies bestätigte sich auch in der Stellungnahme der Dozentenschaft vom folgenden Tag [BayHStA]. Der Antrag ging auf dem Dienstweg über das Kultusministerium an das Reichsministerium mit dem Vorschlag, Kneser zu berufen [BayHStA]. Dieser lehnte jedoch im November 1942 aus Gründen der Rücksicht auf seine Familie ab und auch Süss teilte am 24. Februar 1943 dem Dekan mit, daß er das verlockende Angebot nicht annehmen könne, da er auf seinem Posten bleiben müsse, dazu käme das Wohnungsproblem [UAM, NC].

Das Reichswissenschaftsministerium konzentrierte sich nun auf Hopf. Am 11. Mai 1943 war Hopf in Berlin, am 6. Juli teilte das Kultusministerium dem Rektor der Universität München mit, daß Hopf bereit sei, den Ruf anzunehmen, aber auf einer bindenden Zusage bestehe, daß ein Lehrstuhl für angewandte Mathematik errichtet werden solle. Eine weitere Assistentenstelle, es gab nur eine am Mathematischen Seminar, könne für die Nachkriegszeit zugesagt werden.

Da die Fakultät, einschließlich der Mathematiker, gegen eine zusätzliche Professur mit Schwerpunkt angewandte Mathematik nichts einzuwenden hatte, gab es von dieser Seite kein Problem [UAM, NC, 16.7.1943]. Das Bayerische Finanzministerium erteilte ebenfalls, wenn auch zögerlich, sein placet [BayHStA]. Und doch dauerte es noch bis zum 3. April 1944, bis das Reichswissenschaftsministerium Hopf mit Wirkung vom 1. April 1944 zum Ordinarius ernannte und damit die Nachfolge Carathéodorys endlich geregelt war [BayHStA].

IV

Die Diskussionen um die Nachfolge Carathéodory weisen, wie erwähnt, einige Parallelen zur Sommerfeld-Nachfolge auf. In beiden Fällen schlugen die Fachvertreter bedeutende Wissenschaftler vor (bei den Physikern Werner Heisenberg, Peter Debye und Richard Becker). Und die Dozentenschaft, in München unter der Führung Thürings, lehnte diese nicht nur ab, sondern empfahl selbst wissenschaftlich mehr oder weniger schlecht qualifizierte, dafür aber politisch zuverlässig erscheinende Vertreter (die "angewandten Physiker" Johannes Malsch, Wilhelm Müller und Hans Falkenhagen). Durch diese Operationen verzögerte sich die Neubesetzung jeweils erheblich (mehr als viereinhalb Jahre in der theoretischen Physik, fünfeinhalb Jahre bei der Carathéodory-Nachfolge).

Aber es gab auch erhebliche Unterschiede, der wichtigste darunter, daß im Gegensatz zum Sommerfeld-Lehrstuhl, wo mit Müller der "denkbar schlechteste Nachfolger"26 von der Dozentenschaft durchgesetzt wurde, dies für Hopf als Nachfolger Carathéodorys keineswegs zutraf. Weder war Hopf Parteimitglied, noch war er bekannt für etwaige pro-nationalsozialistische Haltung, eher im Gegenteil. Und fachlich war er ohne Zweifel des Münchener Lehrstuhls würdig, wenn er auch aufgrund der Zeitumstände und seines Weggangs 1947 in die USA in München kaum eine entsprechende Tätigkeit entfalten konnte [vgl. Denker, 1990].

Damit stellt sich die Frage, warum in diesem Fall die Fachwissenschaftler sich wenigstens soweit durchsetzen konnten, im Fall Sommerfeld dagegen nicht. Es gibt dafür wohl mehrere Gründe, nicht unbedingt in der Reihenfolge ihres Gewichts: Werner Heisenberg, die unbestrittene und vielleicht zusehr betonte Nummer Eins auf dem Vorschlag der theoretischen Physik, war selbst zu einem politischen Fall geworden, so daß seine Berufung nach München wesentlich umstrittener und problematischer war als selbst die van der Waerdens beispielsweise, ganz zu schweigen von Herglotz. Hinzu kommt, daß die theoretische Physik generell politisch etwas exponierter gewesen zu sein scheint als die Mathematik. Dazu erlaubte die Physik neben politischen scheinbar auch fachliche Angriffspunkte. Die "Deutsche Physik" war ja durch die Negierung der Relativitäts- und Quantentheorie klarer abgegrenzt als die zudem personell schwächer vertretene "Deutsche Mathematik" Ludwig Bieberbachs. Es fällt auf, daß die Gutachten der Dozentenschaft an der fachlichen Qualität der Mathematiker nie etwas aussetzen können, anders als die entsprechenden Gutachten über die Physiker, die, je nachdem, wirkliche (d. h. angewandte oder technische) Physik oder nur eine Art "Scharlatanerie" konstatieren.27 Trotz aller sonstigen Unfähigkeit hatte hier Müller (absichtlich?) einen cleveren Weg beschritten, als er versuchte, über die Betonung der angewandten Mathematik fachliche Argumente zu finden, mit denen er die ihm aus welchen Gründen auch immer nicht genehmen Kandidaten aushebeln konnte. Der entschiedene Widerstand der Münchener Mathematiker gegen die Umwandlung des Carathéodory-Lehrstuhls schob diesen Versuchen einen Riegel vor. Schließlich muß man in Rechnung stellen, daß Thürings Beteiligung an der Neubesetzung des Lehrstuhls für theoretische Physik noch intensiver ‒ vielleicht gerade weil er nichts davon verstand ‒ und bis zum Ende (1939) möglich war, während die Carathéodory-Nachfolge sich bis tief in die Kriegsjahre hin erstreckte, als nicht nur Thüring sich weniger um die Angelegenheit kümmerte, sondern auch z. B. Führer sich resigniert aus dem Reichswissenschaftsministerium in den Persönlichen Stab Heinrich Himmlers hatte versetzen lassen und Vahlens Stern am Sinken war. Das politische Moment konnte, vor allem außerhalb der Universität München, kein so großes Gewicht mehr gewinnen, was den Mathematikern zugutekam. Und das Dreigestirn Carathéodory, Tietze und vor allem Perron war auf eigenem Gebiet für Thüring und die Münchener Dozentenschaft doch ein harter Gegner, besonders ohne erhebliche Rückendeckung seitens Parteidienststellen (Stellvertreter des Führers, Amt Rosenberg, etc.), wie es sie noch bei der Sommerfeld-Nachfolge gegeben hatte.

Trotz verlorener "Schlachten" und einiger Kompromisse konnte das Primat der fachlichen Qualifizierung über die politische in diesem Fall erhalten werden.


ANMERKUNGEN

1. Carathéodory hatte sich offenbar besonders für Bochners Lehrauftrag in München eingesetzt. Zurück

2. Da es sich bei diesen Auseinandersetzungen häufig um wissenschaftsphilosophische bzw. -historische Habilitationen und Dozenturen drehte, werden sie auch in einem in Vorbereitung befindlichen Artikel von Menso Folkerts und Freddy Litten über die Wissenschaftsgeschichte in München vor 1963 behandelt. [Anm. 2001: Zu Müller sowie zur Sommerfeld-Nachfolge siehe jetzt F. Litten: Mechanik und Antisemitismus - Wilhelm Müller (1880-1968); München 2000.] Zurück

3. Zur Literatur über Carathéodory vgl. Tietze [1957]. Zurück

4. Lindemann hatte sich allerdings in einem Sondervotum am 23. Dezember 1923 gegen Carathéodory ausgesprochen, da dieser Ausländer sei [BayHStA]. Zurück

5. Die Vorschlagsliste wurde erstellt, bevor Carathéodory offiziell in den Ruhestand geschickt wurde; dies geschah durch Erlaß des Reichswissenschaftsministeriums vom 12. August 1938 zum 30. September 1938 [BayHStA]. Zurück

6. Die Nennung von Herglotz ist bemerkenswert: Bereits bei der Pringsheim-Nachfolge 1922 hatte er an zweiter Stelle hinter Perron gestanden. Im folgenden Jahr erhielt er auf Drängen der Münchener Physiker einen Ruf als Nachfolger des Mathematikers Aurel Voss, was besonders Lindemann erboste; Herglotz lehnte damals unter Hinweis auf das Problem der Wohnungsbeschaffung ab, Voss-Nachfolger wurde Tietze [BayHStA]. 1924 war er im Gespräch als Nachfolger Hugo von Seeligers auf dem Lehrstuhl für (theoretische) Astronomie, wofür er sich allerdings fachlich nicht mehr als geeignet ansah. Vgl. Litten [1992, 50ff.]. Schreiben Carathéodorys an Carl Runge vom 8.12.1924 in [Staatsbibliothek zu Berlin Preussischer Kulturbesitz - Handschriftenabteilung]. Zurück

7. Thüring spielte auch bei dem Streit um die Sommerfeld-Nachfolge eine wichtige Rolle (s.u.), ebenso 1933/34 bei der erfolgreichen Denunzierung des Astronomie-Professors und Sternwarten-Direktors Alexander Wilkens. Vgl. Beyerchen [1982]; Litten [1992]. Zurück

8. Ein derartiges Gutachten darf auch als Beweis dafür gelten, daß es Thüring tatsächlich um politische und rassische Gesichtspunkte ging, nicht um die Wissenschaft, wie später gerne behauptet wurde. Zurück

9. "Womit er allerdings die Wahrheit gesagt hat." So Perrons Kommentar nach dem Krieg [UAM, OC-N 1d (Beilage zu den Fakultätsprotokollen, "Der Fall Thüring")]. Zurück

10. Führer, ein Astronom und guter Freund Thürings, wurde 1939 aus dem Bayerischen Kultusministerium in das Reichswissenschaftsministerium übernommen, wo er schließlich zum Ministerialrat aufstieg. Er hatte maßgeblichen Anteil an den Besetzungen naturwissenschaftlicher Lehrstühle in den ersten Kriegsjahren [vgl. Litten, 1992, 237f.]. Zurück

11. Huber war von der Münchener Dozentenschaft zuerst für die Nachfolge Hartogs vorgesehen gewesen. Zurück

12. Das folgende nach [UAM, NC]. Zurück

13. Leider liegen die Gutachten Prandtls und Pfeiffers nicht beim Akt. Zurück

14. Das folgende nach [BayHStA]. Zurück

15. Vgl. Anmerkung 6. Zurück

16. Diese Einschätzung beruht sowohl auf Akten als auch auf späteren Aussagen. Harmlos war Bergdolt allerdings keineswegs. Zurück

17. Zu Max Steck ist ein Artikel von Menso Folkerts und Freddy Litten in Vorbereitung. Das folgende nach [UAM, NC]. Zurück

18. Dieser Brief liegt leider nicht bei den Akten, so daß die von Koebe erwähnten Nebenbedingungen unklar bleiben. Eine davon könnte eine Betonung der angewandten Mathematik gewesen sein. Zurück

19. Eine solche Konzeption seitens des Reichswissenschaftsministeriums hatte es bereits in der Diskussion um die Nachfolge Hartogs gegeben. Zurück

20. Die Antworten holte sich die Dozentenschaft, sie liegen in Abschrift dem Schreiben vom 7. März 1942 bei [UAM, NC]. Zurück

21. Das folgende nach [UAM, NC]. Zurück

22. Vgl. entsprechende Bemerkungen in Schappacher und Scholz[1992, 11]. Zurück

23. Dieses Gutachten ist verschollen. Zurück

24. Das folgende nach [UAM, NC]. Zurück

25. Müller war durch den Rektor "abgesetzt" worden. Zurück

26. So Sommerfeld laut Beyerchen [1982, 226]. Zurück

27. Nach dem Krieg wurde bei Müller aus der "jüdischen" eine "magische" Physik. Zurück


ABKÜRZUNGEN

BayHStA = Bayerisches Hauptstaatsarchiv
NC = OC-N 10a Nachfolge Carathéodory
UAM = Universitätsarchiv München

QUELLEN

Bayerisches Hauptstaatsarchiv
MK V 1376 (vorläufige Nummer).

Behnke, H.
1974: "Constantin Carathéodory 1873-1950", Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung 75, pp. 151-165.

Beyerchen, A. D.
1982: Wissenschaftler unter Hitler, Frankfurt am Main: Ullstein.

Denker, M.
1990: "Eberhard Hopf", Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung 92, pp. 47-57.

Heinhold, J.
1984: "Erinnerungen an eine Epoche Mathematik in München (1930-1960)", Jahrbuch Überblicke Mathematik 1984, pp. 177-209.

Institut für Zeitgeschichte
MA 116/4 Carathéodory.

Litten, F.
1992: Astronomie in Bayern, Stuttgart: Steiner.
1994: "Oskar Perron - Ein Beispiel für Zivilcourage im Dritten Reich", Mitteilungen der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, Heft 3, pp. 11-12.

Perron, O.
1948: "Alfred Pringsheim", in Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1944-1948, München: Bayerische Akademie der Wissenschaften, pp. 187-193.

Schappacher, N. und E. Scholz (Hrsg.)
1992: "Oswald Teichmüller - Leben und Werk", Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung 94, pp. 1-39.

Staatsbibliothek zu Berlin Preussischer Kulturbesitz - Handschriftenabteilung
Depositum Runge - DuBois-Reymond 25, 14b.

Tietze, H.
1957: "Constantin Carathéodory", in Neue Deutsche Biographie, Band 3, Berlin: Duncker & Humblot, pp. 136-137.

Universitätsarchiv München
NC = OC-N 10a Nachfolge Carathéodory.
OC-N 1d (Fakultätsprotokolle).
Sen. 326/6.

© Freddy Litten
13.7.2023