[go: up one dir, main page]

8. Die Lokomotivsteuerung

8.2. Innere Steuerung

Inhaltsverzeichnis:

Schieberbauarten

In den ersten Jahrzehnten der Dampflokomotive, als es nur Naßdampfmaschinen gab, wurde für die Dampfverteilung nur der Flachschieber verwendet. Mit der Einführung des Heißdampfes in den Jahren 1900 bis 1910 mußte für den Steuerschieber eine andere Bauform gesucht werden, da der Flachschieber der erheblich höheren Dampftemperatur und auch den Beanspruchungen durch den höheren Druck nicht mehr gewachsen war. Die ebene Schieberfläche war nicht mehr einwandfrei eben und dicht zu halten. Man ging daher zum Kolbenschieber (Rundschieber) über, bei dem die Abdichtung zwischen Schieberspiegel (Schieberbuchse) und Schieber durch federnde Kolbenringe auch bei hohen Beanspruchungen sicher zu erreichen ist. Heute findet sich der Flachschieber nur noch in einigen älteren Naßdampflokomotiven.

Schieber ohne Überdeckung und ohne Voreilwinkel

Wir wollen nun versuchen, die Entwicklung des Schiebers in seiner neuzeitlichen, wirtschaftlichen Form in ähnlicher Weise nachzuzeichnen, wie sie sich im Laufe der vergangenen Jahrzehnte ergeben hat. Dabei finden wir gleichzeitig die Begründung für die Form des Schiebers und seiner Abmessungen. Als Beispiel nehmen wir zum besseren Verständnis den Kolbenschieber, obwohl früher in der ersten Zeit der Lokomotive der Flachschieber allein das Feld beherrschte. Für den Flachschieber werden wir dann später die besonders kennzeichnenden Begriffe der inneren Steuerung im Vergleich zum Kolbenschieber darstellen. Nehmen wir zunächst einmal an, der Kolbenschieber sei nach Bild 85 so gebaut, daß er den Schieberkanal nur eben abdeckt und daß die Schieberkurbel rechtwinklig zur Treibkurbel steht. Wir vereinfachen dabei bewußt die ganze Übertragung des Schieberantriebs von der Treibachse zum Schieber, um die einzelnen Begriffe der Steuerung klarer erkennen zu können. Später fügen wir dann Schritt für Schritt die heute gebräuchlichen Übertragungsteile ein.

Mit der angenommenen vereinfachten Schieberbauart würde die Dampfverteilung während einer Treibradumdrehung folgendermaßen ablaufen:

Bild 85  Arbeitsweise eines Schiebers ohne Überdeckung und ohne Voreilwinkel
Bild 85 Arbeitsweise eines Schiebers ohne Überdeckung und ohne Voreilwinkel

In Bild 85 a steht die Treibkurbel und damit auch der Kolben im hinteren Totpunkt. Die Schieberkurbel steht dann senkrecht nach unten auf dem höchsten Hub. Der Schieber verschließt in Mittelstellung beide Dampfkanäle nach dem Zylinder. Dreht sich die Treibkurbel im Uhrzeigersinn, so bewegt sich die Schieberkurbel im gleichen Sinn und, da sie auf dem höchsten Hub steht, mit der größten Geschwindigkeit. Der vordere und hintere Kanal wird schnell geöffnet. Der Frischdampf kann im Anfang des Kolbenhubes kräftig einströmen. Der verbrauchte Dampf findet sofort einen Ausweg nach dem Ausströmrohr und übt keinen schädlichen Gegendruck auf den Kolben aus.

Läuft die Treibkurbel dann durch den höchsten Hub (Bild 85 b), so geht die Schieberkurbel durch den hinteren Totpunkt. In diesem Augenblick ist der Schieber am weitesten aus seiner Mittelstellung nach links verschoben und beide Dampfkanäle sind ganz geöffnet. Der Kolben bewegt sich weiter nach dem vorderen Totpunkt, der Schieber kehrt erst langsam, dann aber immer schneller zur Mitte zurück. Steht der Kolben im vorderen Totpunkt, läuft die Schieberkurbel durch den oberen höchsten Hub (Bild 85 c); der Schieber bewegt sich jetzt mit seiner größten Geschwindigkeit von hinten nach vorn und gibt schnell den vorderen Kanal für den Dampfeintritt und den hinteren für die Dampfausströmung frei.

Sobald die Treibkurbel senkrecht nach unten steht (Bild 85 d), befindet sich die Schieberkurbel im vorderen Totpunkt. Der Schieber ist am weitesten aus seiner Mittelstellung nach rechts verschoben und hat beide Dampfkanäle ganz geöffnet. Gelangt die Treibkurbel in den hinteren Totpunkt, wiederholt sich das Spiel von neuem.

Eine so ausgebildete Steuerung ist imstande, den Kolben in Bewegung zu halten, also den Dampf Arbeit leisten zu lassen. Die Ausnutzung des Dampfes ist jedoch nur unvollkommen und der Dampfverbrauch aus folgenden Gründen sehr hoch:

Einführung des Voreilwinkels

Wie aus Bild 85 a zu entnehmen ist, kann der Dampf erst einströmen, wenn der Arbeitskolben sich aus der Totlage entfernt. Für den ersten Teil des Kolbenhubs steht nicht der volle Schieberkastendruck zur Verfügung, da die Dampfeinströmung in den Zylinder eine gewisse Zeit erfordert, und der Dampf durch die anfangs noch geringe Schieberöffnung gedrosselt wird. Damit diesem Mangel abgeholfen wird, muß der Schieber so bewegt werden, daß er den Dampfkanal schon öffnet, bevor der Arbeitskolben die Totlage erreicht hat. Das läßt sich dadurch erreichen, daß man die Schieberkurbel gegen die Treibkurbel um einen gewissen Winkel, den sog. Voreilwinkel, in Umlaufrichtung der Treibkurbel verdreht. Die Schieberkurbel schließt dann mit der Treibkurbel nicht mehr einen Winkel von 90°, sondern einen um den Voreilwinkel w verkleinerten Winkel (90° - w) ein (Bild 86 a).

Bild 86  Wirkung des Voreilwinkels
Bild 86 Wirkung des Voreilwinkels

Damit wird der Schieber bei Totlage des Arbeitskolbens um den Betrag von v mm, das Maß des linearen Voreilens, nach links verschoben. Der Schieber steht dann bei Kolbentotlage nicht mehr in Mittelstellung, sondern hat die Einströmung schon geöffnet: Der Schieber eilt dem Arbeitskolben vor, daher die Bezeichnung "Voreilen" und "Voreilwinkel". Die Dampfeinströmung in den Zylinder beginnt, bevor der Kolben die Totlage erreicht hat (Bild 86 b). Durch das vorzeitige öffnen der Einströmung steht jetzt dem Kolben vom Beginn des Nutzhubs an der volle Schieberkastendruck zur Verfügung, der erstgenannte Mangel ist beseitigt.

Durch das Voreilen des Schiebers ergibt sich noch ein weiterer Vorteil: Zwischen Kolben und Zylinderdeckel muß, wenn der Kolben im Totpunkt steht, ein kleiner Raum bleiben, weil sonst der Kolben leicht anstoßen und den Zylinderdeckel zerstören könnte. Diesen Raum und den des Dampfzuleitungskanals sowie des Rohranschlusses zum Druckausgleicher bezeichnet man als "Verdichtungsraum" oder auch schädlichen Raum. Der Verdichtungsraum muß zunächst mit Dampf aufgefüllt werden, was eine gewisse Zeit erfordert. Hat nun der Schieber Voreilung, so beginnt dieses Auffüllen, kurz bevor der Kolben im Totpunkt angelangt ist.

Ebenso wie jetzt der hintere Zylinderkanal schon kurz vor dem Totpunkt zur Einströmung freigegeben wird, wird gleichzeitig auch der vordere Kanal zur Ausströmung geöffnet, so daß der entspannte Dampf des rechten Zylinderraumes schon kurz vor Ende des Zylinderhubs ausströmen kann. Obwohl die Dehnung des Dampfes dabei nicht bis zum Hubende ausgenutzt wird, ist der Vorauslaß dennoch Vorteilhaft, da die große Dampfmenge des entspannten Dampfes rechtzeitig aus dem Zylinder abströmen kann und nicht erst mit erhöhtem Gegendruck vom Kolben unter Arbeitsverlust ausgeschoben werden muß. Die durch den Voreilwinkel erreichte Voreinströmung und Vorausströmung des Dampfes wirkt sich also günstig auf die Dampfausnutzung aus.

Einführung der Überdeckungen

Der zuvor genannte Mangel der fehlenden Dehnungsausnutzung läßt sich dadurch beseitigen, daß man dem Schieber Überdeckungen gibt. Solange der Schieber nur so breit ist wie der Zylinderkanal, wird der Kanal im gleichen Augenblick, in dem er zur Einströmung hin abgeschlossen wird, zur Ausströmung hin geöffnet. Für die Dehnungsausnutzung bleibt keine Zeit.

Einströmüberdeckung

Wir geben nun dem Schieber zunächst Einströmüberdeckung e (Bild 87), d.h., wir verbreitern den Schieber so, daß er um das Maß e nach der Einströmseite hin über die Breite des Zylinderkanals hinausragt. Auch hierbei wird der Voreilwinkel so gewählt, daß der linke Kanal bei Kolbentotlage schon um das Maß des linearen Voreilens geöffnet ist (Bild 87 b). Während sich der Kolben nach rechts bewegt, geht der Schieber nach links und hat am weitesten geöffnet, wenn die Schieberkurbel im hinteren Totpunkt steht. Kehrt der Schieber zurück, so schließt zunächst die Einströmsteuerkante den Zylinder vom Einströmrohr ab (Bild 87 c). Die Ausströmung wird jedoch nicht schon bei der gleichen Kolbenstellung geöffnet, sondern der Schieber muß erst um den Betrag der Einströmüberdeckung weiter nach rechts ausweichen, bis die Ausströmsteuerkante den linken Kanal zur Ausströmung hin freigibt (Bild 87 d).

Bild 87  Einführung der Einströmüberdeckung
Bild 87 Einführung der Einströmüberdeckung

Der Zylinder bleibt währenddessen vollständig abgeschlossen. Die Zeit, in der die Treibkurbel den Weg von Stellung K1 (Bild 87 c) nach K2 (Bild 87 d) zurücklegt, steht der Dampfdehnung zur Verfügung.

Die durch die Einströmüberdeckung erreichte Dehnung dauert so lange, bis der Schieber in seine Mittelstellung zurückgekehrt ist. Hier öffnet der Schieber den Kanal nach dem Ausströmrohr. Die Treibkurbel steht in diesem Augenblick (Bild 87 d) um den Voreilwinkel w vor dem vorderen Totpunkt. Die Dehnung hört auf und der Dampf entweicht aus dem Zylinder, bevor der Kolben seinen Lauf ganz vollendet hat. Die Fähigkeit des Dampfes, sich auszudehnen, ist nicht weit genug ausgenutzt.

Ausströmüberdeckung

Wir geben deshalb dem Schieber auch auf der Ausströmseite eine Überdeckung i (Bild 88 a). Bei der Drehung der Treibkurbel weicht der Schieber aus der Mittelstellung zunächst nach links aus und gibt für den linken Zylinderraum die Einströmung frei. Sobald die Treibkurbel in K1 (Bild 88 b) angelangt ist, wird die Einströmung wieder abgeschlossen. Aus dieser Lage muß der Schieber jetzt um das Maß der Einströmüberdeckung und der Ausströmüberdeckung nach rechts gehen (Bild 88 c), ehe die Ausströmung geöffnet wird.

Bild 88  Einführung der Ausströmüberdeckung
Bild 88 Einführung der Ausströmüberdeckung

Der für die Dehnung zur Verfügung stehende Kolbenweg wird entsprechend größer, die Treibkurbel gelangt näher an die Totlage K2 (Bild 88 c) und die Dampfdehnung wird nach Einführung der Ausströmüberdeckung besser ausgenutzt.

Der Schieberhub ist gleich der doppelten Kanalbreite und der doppelten Einströmüberdeckung. Die Länge der Schieberkurbel ist die Hälfte davon (a+e).

Größe der Überdeckungen

Im folgenden soll noch erläutert werden, welchen Einfluß die Größe der Überdeckungen auf das Ausströmen des Dampfes hat:

Wenn Ein- und Ausströmüberdeckungen gleich groß wären, so würde auf der einen Zylinderseite der Dampf eintreten, während er auf der anderen Seite gleichzeitig austritt.

Es ist zweckmäßiger, daß das Ausströmen früher beginnt, damit der Kolben auf der Ausströmseite schon entlastet ist, wenn auf der Einströmseite der Dampf eintritt. Man wählt deshalb die Ausströmüberdeckung kleiner als die Einströmüberdeckung. Bei den Kolbenschiebern der Einheitslokomotiven mit einstufiger Dehnung beträgt die Einströmüberdeckung e = 38 mm, die Ausströmüberdeckung i = 2 mm. Die Kanalbreite a = 52 mm.

Verdichtung

Bei der Stellung des Schiebers in Bild 88 c, Kurbelstellung K2 hört die Dehnung auf. Rückt der Schieber weiter nach rechts, so wird der linke Kanal nach der Ausströmung geöffnet und bleibt so lange offen, bis der Schieber auf dem Rückweg in die gleiche Lage kommt. Die Schieberkurbel steht dann in E', während die Treibkurbel in K'2 (Bild 88 d) steht. Von diesem Augenblick an wird eine gewisse Dampfmenge zwischen Kolben und Zylinder eingeschlossen und durch den weitertreibenden Kolben zusammengepreßt. Man nennt diesen Abschnitt des Kolbenweges die Verdichtung. Sie beginnt um so früher, je größer die Ausströmüberdeckung ist. Durch die Verdichtung werden verschiedene Vorteile erzielt: Einmal unterstützt der bei der Verdichtung erzeugte hohe Dampfdruck die Voreinströmung insofern, als im Hubwechsel nur noch wenig Kesseldampf notwendig ist, um den Druck im Verdichtungsraum auf die Druckhöhe des Kesseldampfes zu ergänzen. Zum anderen gleicht sich durch die Verdichtung der Übergang von der Ausström- auf die Einströmspannung aus, und es werden Stöße vermieden, die durch einen plötzlichen Wechsel der Kolbenkraft im Gestänge und in den Lagern sonst hervorgerufen würden.


Aufbau und Technik der Dampflokomotive